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Full text of "Alice im Spiegelland"

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An alle deutschen Rinder^ 
die dieses Buch lesen! 



Manche von Eudi kennen die Abenteuer der kleinen Alice 
im Wunderland, wo sie den Kartenkönigen und Kartenköniginnen 
begegnet und so komisdie Dinge erlebt ; nun, hier ist der Beridit 
über ihre Reise ins Spiegelland, und der wird Euch nicht weniger 
unterhalten. Alice trifft da allerlei lebendige Schachfiguren 
und spielt mit ihnen eine höchst aufregende und interessante 
Partie Schach. Viele Generationen von englisciien Kindern haben 
dieses Buch wie das aus dem Wunderland mit Spannung und 
Entzücken gelesen ; es ist in England und in Amerika so bekannt 
und geliebt wie die Grimm'schen Märchen bei Euch und der 
Robinson Crusoe in der ganzen Welt. 

Nun sollt Ihr deutschen Kinder es auch besitzen. Diejenigen 
unter Eucii, denen es am besten gefällt, bitte ich, mir einen Brief 
zu schreiben und mir zu sagen, welciies von allen deutsciien 
Büchern wir wohl nun den englischen Kindern als Gegengeschenk 
für die „Alice" schicken sollen, damit sie es in ihrer eigenen 
Sprache lesen und sich daran freuen können. 

Wien, XIII/1 HELENE SCHEURIESZ 




LEWIS CARROLL 

A E I C E 

DEUTSCH VON 

HELENE SCHEU. RIESZ 

AUSSTATTUNG VON 

URIEL BIRNBAUM 



19 2 3 

SESAM-VERLAG 

WIEN — LEIPZIG — NEWYORK 




SCHWARZ 



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WEISS 



Weißer Bauer (Alice) zieht und gewinnt in elf Zügen. 



Seile 

1. Alice trifft S. Königin . . 21 

2. Alice über D3 (per 
Bahn) nach D4 (Didel- 
dum und Dideldei) ... 28 

3. Alice trifft W. Königin 
(mit Tudi) , 52 

4. Alice nach D 5 (Laden, 
Fluß, Laden) 57 

5. AlicenadiD6(Plumpsti 
Bumsti) 63 

6. Alice nach D7 (Wald) 85 

7. W.Ritter nimmt S. Riller 88 

8. Alice nach D8 (Krö- 
nung) 101 

9. Alice wird Königin ... 109 

10. Alice im Schloß 112 

11. Alice nimmt S. Königin 



Seite 

1. S. Königin nach H5 . . 24 

2. W. Königin nadi C4 
(nach Tuch) 51 

3. W. Königin nach C5 
(wird Schaf) 57 

4. W. Königin nacii F8 
(läßt Ei im Fach) 62 

5. W. Königin nach C8 
(Flucht vor S. Ritter) . . 81 

6. S. Ritter nacii E7 
(Schach!) 86 

7. W. Ritter nach F5 . . . 100 

8. S. Königin nach E 8 
(Prüfung) 104 

9. Königinnen im Schloß . 112 
10. W. Königin nadi A6 

(Suppe) 116 

und gewinnt 117 



Inhaltsverzeichnis. 



Seite 

I. Kapitel: Das Spiegelhaus 7—17 

11. Kapitel: Der Garten der lebenden Blumen ... 18—28 

III. Kapitel: Spiegelinsekten 29—38 

IV. Kapitel: Dideldum und Dideldei 39—51 

V. Kapitel: Wolle und Wasser 52-62 

VI. Kapitel: Plumpsti Bumsti 63—75 

VII. Kapitel : Der Löwe und das Einhorn 76—85 

VIII. Kapitel: „Es ist meine eigene Erfindung" 86—101 

IX. Kapitel: Königin Alice 102—117 

X. Kapitel: Beuteln 118 

XI. Kapitel: Aufwachen 119 

XII. Kapitel: Wer hat es geträumt? 120-122 



I. K a p i t c 1. 

Das Spiegelhaus. 



Eins war sicher: das weiße Kätzchen hatte nichts 
damit zu tun — nur das schwarze war schuld 
daran. Denn während der letzten Viertelstunde 
hatte Dinah, die alte Katze, dem weißen Kätz- 
chen das Gesicht gewaschen (und es hatte 
dabei sogar verhältnismäßig still gehalten); es 
konnte also an der ganzen Geschichte keine 
Schuld haben. 

Dinah wusch ihren Kindern auf folgende Weise 
das Gesicht: Zuerst hielt sie die armen Kleinen mit 
der Pfote am Ohr fest, dann rieb sie ihnen mit der 
anderen Pfote das Gesicht ab, und zwar in der 
umgekehrten Richtung; das heißt, von der Nase 
aufwärts. Gerade in jenem Augenblick hatte sie, 
wie gesagt, das weiße Kätzchen fest in der 
Arbeit; es lag ganz still da und versuchte zu 
schnurren — es fühlte jedenfalls, daß alles zu 
seinem Besten geschah. 

Das schwarze Kätzchen hingegen war schon gleich 
nach Tisch gewaschen worden; darum hatte es, 
während Alice, halb schlafend, halb mit sich selber 
plaudernd, in einer Ecke des großen Lehnstuhls zu- 
sammengerollt saß, mit dem Wollknäuel gespielt, den 
Alice aufwickeln sollte. Das Kätzchen hatte ihn herum- 
gerollt, bis er wieder ganz offen war. Da lag nun 
die Wolle vor dem Kamin, verknotet und verwirrt, 
während mitten drin das Kätzchen seinem eigenen 
Schwanz nachlief. 

„O du nichtsnutziges kleines Ding," rief Alice, 
fing das Kätzchen und gab ihm einen Kuß, um ihm 



zu zeigen, daß es in Ungnade wäre. „Wirklich, Dinah 
hätte dir bessere Manieren beibringen sollen! Jawohl, 
Dinah I" Und sie schaute die alte Katze vorwurfsvoll 
an. Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen möglichst 
zornigen Ton zu geben. Dann kroch sie in ihren 
Lehnstuhl zurück und nahm das Kätzchen und den 
Wollknäuel mit. Sie begann den Knäuel wieder auf* 
zuwickeln, aber sie kam nicht sehr rasch vorwärts, 
denn sie plauderte die ganze Zeit, bald mit sich 
selbst, bald mit dem Kätzchen. Dieses saß ganz still 
auf ihrem Schoß und schien beim Aufwickeln zuzu- 
sehen; ab und zu streckte es eine Pfote aus und 
berührte sanft den Knäuel, wie um zu helfen. 

„Weißt du, was morgen los ist, Miez?" begann Alice. 
„Du hättest es erraten, wenn du vorhin mit mir am 
Fenster gewesen wärst, aber Dinah hat dich gerade 
gewaschen, also konntest du nicht dabei sein. Ich 
habe zugesehen, wie die Knaben Stödce für das Berg- 
feuer holten. Man braucht eine Menge Stöcke dazu, 
Miez. Es ist so kalt geworden und hat so stark ge- 
schneit, daß sie jetzt aufgehört haben. Das macht aber 
nichts, Miez, wir werden morgen doch hingehen und das 
Bergfeuer anschauen." Alice wickelte die Wolle jetzt 
einigemale um des Kätzchens Hals, nur um zu sehen, 
wie ihr das zu Gesicht stünde. Dies führte zu einer 
Balgerei, bei welcher der Knäuel auf den Boden 
rollte, so daß sich wieder viele Meter Wolle los- 
wickelten. 

„Weißt du, Miez, ich war sehr böse auf dich," 
sagte Alice, als sie beide wieder im Lehnstuhl saßen. 
„Als ich das Unheil sah, das du angerichtet hattest, 
wollte ich schon das Fenster aufmachen und dich in 
den Schnee hinauswerfen! Du hättest es verdient, du 
kleiner Nichtsnutz. Was kannst du zu deiner Ent- 
schuldigung vorbringen? Unterbrich mich nicht!" Sie 

8 



hielt einen Finger in die Höhe. „Ich werde dir jetzt 
alle deine Sünden aufzählen. Nummer eins: Du hast 
heute beim Waschen zweimal gequietscht; du kannst 
es nicht leugnen, Miez. Ich habe es gehört! Was 
sagst du?" (Sie stellte sich, als hätte sie das Kätzchen 
sprechen gehört.) „Dinahs Pfote ist dir ins Auge ge- 
kommen? Da bist du nur selbst schuld, weil du deine 
Augen beim Gesichtwaschen offen hältst. Wenn du 
sie fest zugemacht hättest, wäre das nicht passiert; also 
keine Ausrede mehr! Höre weiter zu! Nummer zwei: 
Du hast deine Schwester Schneeweißchen am Schwanz 
weggezogen, als ich die Milch vor sie hinstellte. Was, 
du warst durstig? Woher weißt du, daß sie nicht auch 
durstig war? — Und jetzt Nummer drei: Du hast die 
ganze Wolle vom Knäuel gewickelt, während ich nicht 
hinschaute ! 

Das sind drei Sünden, und du wirst für jede be- 
straft werden. Weißt du, ich hebe dir alle Strafen für 
übernächsten Mittwoch auf. — Wie wäre das wohl, 
wenn man mir meine Strafen aufheben würde?" fuhr 
sie fort, jetzt mehr zu sich selbst als zum Kätzchen 
redend. „Was würde man am Jahresende mit mir 
machen? Wahrscheinlich würde ich in den Kerker 
kommen, oder, wenn ich für jede Strafe kein 
Mittagessen bekäme, dann würden mir am Ende des 
Jahres auf einmal fünfzig Mittagessen entzogen! Nun, 
daran würde mir nicht viel liegen, es wäre besser, 
als wenn ich alle fünfzig auf einmal essen müßte ! — 

Hörst du, wie der Schnee gegen die Fenster- 
scheiben schlägt, Miez? wie schön weich das kling!, 
gerade wie wenn jemand das Fenster von außen 
küssen würde. Glaubst du, daß der Schnee die Felder 
und Bäume lieb hat, weil er sie so sanft küßt? und 
dann deckt er sie so warm zu, weißt du, mit einer 
weißen Federdecke; und vielleicht sagt er: „Geht 



schlafen, ihr Lieben, bis der Sommer wieder kommt." 
Und wenn sie im Sommer aufwachen, Miez, dann 
kleiden sie sich ganz in Grün und tanzen, so oft der 
Wind bläst. Oh, das ist hübsch!« Sie ließ den Woll- 
knäuel fallen, um in die Hände zu klatschen. „Oh, 
wenn es nur wahr wäre! Jedenfalls schauen die 
Bäume im Herbst schläfrig aus, wenn die Blätter 
braun werden. — 

Miez, kannst du Schach spielen? Lach nicht, ich 
frage dich im Ernst. Denn während meine Schwester 
und ich jetzt eben spielten, hast du zugeschaut, als 
ob du etwas davon verstündest, und als ich ,Schach* 
sagte, hast du geschnurrt! Es war eine hübsche Schach- 
partie, Miez, und ich hätte gewinnen können, wenn 
nicht dieser dumme Ritter in meine Bauern hinein- 
geritten wäre. Liebes Miezchen, spielen wir, daß ..." 
(Ich wollte, ich könnte hier die Hälfte von all den 
Dingen anführen, die Alice zu sagen pflegte, wenn sie 
mit ihrem Lieblingssatz „Spielen wir, daß ..." anfing. 
Sie hatte gerade gestern einen Streit mit ihrer 
Schwester gehabt, weil Alice gesagt hatte: „Wir 
wollen spielen, daß wir Könige und Königinnen sind." 
Ihre Schwester hatte eingewendet, daß das nicht 
möglich sei, weil sie nur zwei wären. Alice hatte 
schließlich gesagt: „Du kannst eine sein und ich 
werde alle andern sein." Einmal hatte sie ihre alte 
Kinderfrau ernstlich erschreckt, indem sie ihr plötzlich 
ins Ohr schrie: „Kinderfrau, wir wollen jetzt spielen, 
ich wäre eine Hyäne und du wärst ein Knochen!" 
Aber das bringt uns von dem Gespräch zwischen 
Alice und dem Kätzchen ab.) „Wir wollen spielen, 
daß du die schwarze Königin bist, Miez ; weißt du, ich 
glaube, wenn du dich aufsetztest und die Arme kreuztest, 
könntest du genau so aussehen wie sie. Liebes 
Miezchen, probier es einmal!" Und Alice nahm die 

10 



schwarze Königin vom Schachbrett und setzte sie vor 
das Kätzchen hin, als Vorbild: aber die Sache ging 
nicht, hauptsächlich, weil das Kätzchen seine Arme 
nicht richtig kreuzen wollte, wie Alice sagte. Zur 
Strafe hielt sie es vor den Spiegel, um ihm zu 
zeigen, wie mürrisch es aussehe. — „Und wenn du 
nicht gleich lieb bist," fügte sie hinzu, „will ich dich 
in das Spiegelhaus durchstecken. Wie würde dir das 
gefallen?" 

„Wenn du mir zuhörst, Miez, und nicht so viel 
schwatzest, dann will ich dir sagen, was ich über das 
Spiegelhaus denke. Da ist einmal das Zimmer, das 
du durch den Spiegel sehen kannst — es sieht genau 
so aus, wie unser Wohnzimmer, nur stehen alle Sachen 
verkehrt. Wenn ich auf einen Sessel steige, kann ich 
alles sehen; — alles, bis auf das Stüdcchen hinter 
dem Kamin. Oh, wenn ich doch nur dieses Stückchen 
audi sehen könnte! Ich möchte gar so gern wissen, ob 
sie da drüben im Winter ein Feuer haben! Man kann 
das nie herausbringen, außer wenn unser Kaminfeuer 
raucht; dann kommt auch in dem Zimmer da drüben 
Rauch in die Höhe — aber vielleicht ist das kein 
wirklicher Rauch, bloß etwas Vorgetäuschtes, damit 
es so aussieht, als ob sie ein Kaminfeuer hätten. Die 
Bücher sind ziemlich ähnlich, wie die unsrigen, nur 
sind die Worte verkehrt: Ich weiß das, denn ich habe 
eins von unsern Büchern vor den Spiegel gehalten 
und dann haben sie auch drüben eins in die Höhe 
gehalten." 

„Würdest du gerne im Spiegelhaus wohnen, Miez? 
wer weiß, ob man dir dort Milch geben würde! Viel- 
leicht ist Spiegelmilch nicht gut zum Trinken. Miez, 
jetzt kommen wir ins Vorzimmer, du kannst gerade 
ein kleines Stückchen vom Vorzimmer im Spiegelhaus 
sehen, wenn du die Türe unseres Wohnzimmers weit 

11 



offen läßt; und soweit man es sehen kann, ist es 
unserm Vorzimmer ziemlich ähnlich, aber weißt du, 
deshalb kann es doch weiter rückwärts ganz anders 
sein. Oh Miez, wie schön wäre es doch, wenn wir 
ins Spiegelhaus durchkommen könnten! Sicher sind 
herrliche Sachen drin! Wir wollen spielen, daß man 
auf irgend eine Weise durchkommen kann, Miez. Wir 
wollen spielen, daß das Glas ganz weich wird wie ein 
Schleier, so daß wir durchkönnen. Schau nur, es ver- 
wandelt sich wirklich in eine Art Nebel, da wird man 
ganz leicht durchkönnen! — " Während sie das sagte, 
stand sie plötzlich auf dem Marmorkamin oben, ob- 
wohl sie kaum wußte, wie sie hinaufgekommen war; 
und wirklich begann das Glas zu schmelzen und sich 
in einen hellen, silbernen Nebel zu verwandeln. 

Im Augenblick war Alice durch das Glas hindurch 
und in das Spiegelzimmer gesprungen. Das erste, wovon 
sie sich überzeugte, war das Feuer im Kamin, und sie 
freute sich, zu sehen, daß es ein wirkliches Feuer war 
und genau so hell brannte wie das, wovor sie eben 
gesessen war. „Es wird also hier eben so warm sein 
wie im alten Zimmer" dachte Alice; „ja sogar noch 
wärmer, denn hier wird mich niemand vom Feuer weg- 
schicken. Oh, das wird lustig sein, wenn sie mich durch 
das Glas sehen und mich nicht erwischen können!" 

Dann fing sie an, herumzuschauen und bemerkte, daß 
alles, was sie aus dem alten Zimmer gesehen hatte, ganz ge- 
wöhnlich und uninteressant war ; das übrige ab er war davon 
so verschieden wie nur möglich. Zum Beispiel schienen 
die Bilder in der Wand neben dem Kamin alle lebendig 
zu sein und sogar die Uhr auf dem Kamin (man kann be- 
kanntlich nur ihre Rüd^seite im Spiegel sehen) hatte das 
Gesicht eines kleinen alten Mannes und grinste sie an. 

Dieses Zimmer ist nicht so sauber gehalten, wie 
das unsrige, dachte Alice bei sich, als sie einige 

12 



Schachfiguren auf dem Kaminvorsatz unter der Asche 
liegen sah; aber im nächsten Augenblick stieß sie 
einen Ruf der Überraschung aus und kniete auf den 
Fußboden, um sie zu beobachten. Die Schachfiguren 
gingen paarweise herum! 

„Hier ist der schwarze König und die schwarze 
Königin,* sagte Alice flüsternd (aus Angst, sie zu 
erschrecken), „und dort sitzt der weiße König und 
die weiße Königin auf der Kohlenschaufel — und 
hier gehen zwei Arm in Arm spazieren. Ich glaube 
nicht, daß sie mich hören können," fuhr sie fort und 
neigte den Kopf tiefer. „Und ich bin beinahe gewiß, 
daß sie mich nicht sehen können. Ich habe ein Gefühl, 
als ob ich unsichtbar wäre.* 

Jetzt begann etwas auf dem Tisch hinter Alice' 
zu quietschen; sie drehte sich um und sah gerade 
noch einen der weißen Bauern umfallen und um sich 
schlagen. Sie beobachtete ihn, sehr neugierig, was 
wohl jetzt geschehen würde. 

„Das ist die Stimme meines Kindes 1* schrie die 
weiße Königin und lief so heftig am König vorüber, 
daß sie ihn in die Asche warf. „Meine teuerste Lily, 
mein königliches Kätzchen!" und sie fing an, eiligst 
das Kamingitter hinaufzuklettern. 

„Königlicher Blödsinn!" sagte der König und rieb 
sich die Nase, die er sich beim Hinstürzen an- 
geschlagen hatte. Er hatte guten Grund, ärgerlich zu 
sein, denn er war von oben bis unten mit Asche bedeckt. 

Alice wollte sich gern nützlich erweisen, und da das 
arme kleine Königskindchen so schrie, daß es beinahe 
Krämpfe bekam, nahm sie die Königin rasch und stellte 
sie neben ihre brüllende Tochter auf den Tisch. 

Die Königin setzte sich keuchend nieder. Die 
rasche Reise durch die Luft hatte ihr den Atem 
genommen und minutenlang konnte sie nichts tun, 

13 



als die kleine Lily schweigend ans Herz drüdten. Als 
sie wieder ein wenig Luft hatte, rief sie zum weißen 
König hinüber, der verdrossen in der Asche saß: 
„Nimm dich vor dem Vulkan in achtl" 

„Vor welchem Vulkan?" sagte der König und 
schaute ängstlich ins Feuer, als ob dort der beste 
Platz wäre, einen Vulkan zu finden. 

„Hat — mich — heraufgeblasen," keuchte die 
Königin. „Schau, daß du auf eine natürliche Weise 
heraufkommst! Laß dich nicht heraufblasen!" Alice 
beobachtete den weißen König, wie er langsam sich 
von Gitterstange zu Gitterstange emporarbeitete, und 
sagte endlich: „Auf diese Weise werden Sie viele 
Stunden brauchen, um auf den Tisch zu kommen. Es 
ist doch viel besser, wenn ich Ihnen helfe, nicht?" 
Aber der König nahm keine Notiz von der Frage. 
Es war ganz klar, daß er sie weder hören noch 
sehen konnte. 

Alice nahm ihn also sehr sanft auf und hob ihn 
langsamer hinüber als die Königin, um ihn nicht 
außer Atem zu bringen; aber bevor sie ihn auf den 
Tisch hinstellte, hielt sie es für besser, ihn ein wenig 
abzustauben, denn er war ganz mit Asche bestreut, 

Sie hat später erzählt, sie hätte nie in ihrem Leben 
ein solches Gesicht gesehen, wie es der König 
machte, als er sich von einer unsichtbaren Hand in 
der Luft gehalten und abgestaubt fühlte. Er war viel 
zu überrascht, um zu schreien, aber seine Augen 
und sein Mund öffneten sich immer weiter und runder, 
bis Alice sich vor Lachen so schüttelte, daß er ihr 
beinahe aus der Hand gefallen wäre. 

„Oh, bitte, schneiden Sie keine solchen Gesichter, 
lieber König!" rief sie aus und vergaß ganz, daß der 
König sie nicht hören konnte. „Sie bringen mich so 
zum Lachen, daß ich Sie kaum halten kann! und 

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machen Sie Ihren Mund nicht gar so weit auf! die 
ganze Asche wird hineinkommen — so, jetzt sind Sie 
rein, glaube ich." Sie fuhr ihm noch übers Haar 
und setzte ihn neben die Königin auf den Tisch. 

Der König fiel sofort flach auf den Rüdcen und 
lag vollkommen still. Alice war ein bißchen beunruhigt 
sie ging durch das Zimmer und suchte Wasser, um ihn 
anzuspritzen, fand aber nichts als eine Flasche Tinte. 
Als sie damit zurüddcam, sah sie, daß er sich erholt 
hatte und mit der Königin im entsetzten Flüsterton 
sprach — so leise, daß Alice es kaum verstehen konnte. 

Der König sagte: „Ich versichere dich, meine 
Liebe, mir wurde kalt bis zu den Spitzen meines 
BadcenbartesI" 

Worauf die Königin erwiderte: „Du hast ja gar 
keinen Badcenbart.** 

»Das Entsetzen dieses Augenblidces", fuhr der 
König fort, „werde ich nie, nie vergessen!" 

„Oh doch, du wirst es vergessen," sagte die 
Königin, „wenn du es dir nicht notierst." 

Alice beobachtete mit großem Interesse, wie der 
König ein riesiges Notizbuch aus der Tasche nahm 
und anfing, zu schreiben. Ein plötzlicher Einfall kam 
ihr; sie faßte das Ende des Bleistiftes, das ihm über 
die Schulter ragte, und fing an, für ihn zu schreiben. 

Der arme König schaute verwirrt und unglüdclich 
drein und kämpfte einige Zeit schweigend mit dem 
Bleistift, aber Alice war zu stark für ihn und schließlich 
keuchte er hervor: „Meine Liebe, ich muß wirklich 
einen dünneren Bleistift nehmen; mit diesem komme 
ich nicht vorwärts, er schreibt alle möglichen Sachen, 
die ich gar nicht schreiben will — * 

„Was für Sachen?" Die Königin schaute das Buch 
an (in das Alice hineingeschrieben hatte: Der weiße 
Ritter rutscht den Schürhaken herunter; er klettert 

15 



sehr schlecht) „Das ist keine Notiz über deine 
Oefühle!" sagte sie. 

Auf dem Tisch sah Alice ein Buch liegen, und 
während sie den weißen König beobachtete (denn 
sie war noch immer in Sorge um ihn und hielt die 
Tinte bereit, um ihn damit anzuspritzen, sofern er 
wieder in Ohnmacht fallen sollte), blätterte sie darin 
und hoffte, etwas zum Lesen zu finden. „Das ist eine 
Sprache, die ich nicht kenne," sagte sie zu sich selbst. 

Dort stand folgendes: 

.5bowi9ddß( 

nsvoT (\s:Ani\f\os sib bnu gidüid ißw a* 

rnseßS nsb mu nshsiarloa bnu nsldußg 

nsvogoioa 9ib nsißw ßiemim snßO 

.n98ßn n9df651 n9bmoit 9ib bnu 

Eine Zeit lang grübelte sie darüber nach, aber 
plötzlich kam ihr eine Eingebung. „Es ist ja ein 
Spiegelbuch, natürlich! Wenn ich es vor den Spiegel 
halte, werden die Worte alle richtig zu lesen sein." 

Das Gedicht, das sie nun las, lautete so: 

Jabberwodi. 
's war brühig und die schlinken Toven 
gaubten und scheierten um den Sasen: 
Ganz mimsig waren die Borogoven 
und die fromden Rathen nasen. 

„Hut dich vorm Jabberwock, mein Sohn! 
Die Kiefern, die beißen, die Klauen, die fangen! 
Lauf vor dem Jubjubvogel davon 
und den frumiosen Banderschlangen!* 

Er nahm sein worples Schwert zur Hand 
und suchte lang den mangsen Feind — 
Beim Tumtumbaum er schweigend stand, 
mit den Gedanken tief vereint. 

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Und als er aufwärts denkend stand, 
kam Jabberwodi mit Flammenaugen 
wipfend hindurch die Tulgeiwand 
leis büchernd angesaugen. 

Eins zwei, eins zwei! Und durch und durch 
der worple Stahl ging schnadcerschnidtl 
Er ließ es tot, und flink und hurch 
galumpte er zurüde. 

„Und schlugst du tot den Jabberwodc, 
in meine Arme, Leuchterbubell 
Freudiger Tagl Kailoh! Kallodt!" 
Er schudeelte in seinem Jubel! 

„Das scheint sehr hübsch zu sein," sagte sie, als sie es 
zu Ende gelesen hatte, „ aber es ist ziemlich schwer zu ver- 
stehen." (Sie wollte nämlich nicht gerne zugeben, nicht 
einmal vor sich selbst, daß sie gar nichts davon verstand.) 
„ Ich fühle in meinem Kopf allerlei Vorstellungen, ich weiß 
nur nicht genau, was sie bedeuten! Jedenfalls ist soviel 
klar irgendjemand hat irgendjemanden getötet." 

Alice sprang plötzlich auf. „Wenn ich mich nicht 
beeile, werde ich durch den Spiegel zurüdcgehen 
müssen, bevor ich gesehen habe, wie das übrige 
Haus aussieht! Ich möchte zuerst den Garten sehen!" 
Sie war im Nu aus dem Zimmer und lief die Süege 
hinunter — oder eigentlich, sie lief nicht, sondern 
kam auf eine neue Art rasch und leicht hinunter; sie 
hielt nur ihre Fingerspitzen an das Stiegengeländer 
und schwebte sanft abwärts, ohne die Stufen auch 
nur mit den Füßen zu berühren. Dann schwebte sie 
weiter durch die Halle und würde auf die selbe Art 
zur Tür hinausgekommen sein, wenn sie sich nicht 
am Türpfosten angehalten hätte. Sie war ein bißchen 
schwindlig von diesem Schweben durch die Luft und 
freute sich, wieder auf normale Weise zu gehen. 

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II. Kapitel. 

Der Garten der lebenden Blumen. 



„Ich könnte den Garten viel besser sehen," sagte 
Alice zu sich, „wenn ich auf die Spitze dieses Hügels 
ginge: Da ist ein Weg, der gerade hinführt — das 
heißt, er führt nicht hin — ." (Nachdem sie den Pfad 
einige Meter weit gegangen war, fand sie, daß er 
sehr starke Windungen machte.) „Aber zum Schluß 
wird er doch hinführen, glaube ich. Wie komisch er 
sich windet I Das ist ja mehr ein Schraubenzieher 
als ein Weg! Diese Windung hier muß auf den 
Hügel führen — nein, wieder nicht, die führt gerade- 
wegs zum Haus zurüde! Gut, dann will ich es um- 
gekehrt probieren." 

Das tat sie auch; auf und nieder wanderte sie 
und Windung um Windung versuchte sie, aber immer 
wieder kam sie zum Hause zurück. Einmal, als 
sie in eine Windung rascher als gewöhnlich einbog, 
rannte sie gegen das Haus an, ehe sie einhalten 
konnte. 

„Ich lasse mich nun einmal nicht zwingen!" sagte 
Alice und schaute das Haus an, wie um ihm zuzu- 
reden. „Ich will jetzt noch nicht hineingehen. Ich 
weiß, daß ich wieder durch den Spiegel zurüd^gehen 
müßte — in das alte Zimmer — und da hätten alle 
meine Abenteuer ein Ende." Sie wandte also dem 
Haus den Rüdeen und betrat den Weg noch einmal, 
entschlossen, solange vorwärts zu gehen, bis sie 
hinaufkäme. Eine Weile ging alles gut und sie 
sagte gerade: „Diesmal werde ich es wirklich er- 
reichen" — da drehte sich der Weg plötzlich und 
schüttelte sich. (So hat sie es nachher beschrieben.) 

18 



Im nächsten Augenblick merkte sie, daß sie tatsächlich 
zur Haustür hineinging. 

„Das ist doch zu dumm," rief sie, „ein Haus, das 
einem so in den Weg läuft, ist mir noch nicht vor- 
gekommen!" 

Der Hügel stand ihr gerade gegenüber; so konnte 
sie nichts tun, als wieder auf ihn zugehen. Diesmal 
kam sie an ein großes Blumenbeet mit einer Ein- 
fassung von Gänseblümchen und einem Weidenbaum 
in der Mitte. 

„O TigerUlie," sagte Alice zu einer Blüte, die 
sich graziös nach allen Seiten verneigte, „wenn du 
doch nur sprechen könntest I" 

„Ich kann sprechen," sagte die Tigerlilie, „aber 
nur zu jemandem, der der Rede wert ist." 

Alice war so erstaunt, daß sie eine Minute lang 
selbst nicht reden konnte. Es verschlug ihr den Atem. 
Endlich fragte sie ängstlich, beinahe flüsternd: „Können 
alle Blumen sprechen?" 

„So gut wie du," sagte die Tigerlilie, „nur viel 
lauter." 

„Es schidct sich nicht, daß wir anfangen, weißt 
du," sagte die Rose, „und ich war schon sehr begierig, 
wann du uns endHch einmal anreden würdest. Ich 
sagte mir: „Ihr Gesicht zeigt Spuren von Vernunft, 
obwohl es nicht gerade besonders gescheit aussieht! 
Immerhin hat sie die richtige Farbe und das macht 
viel aus." 

„Mir ist die Farbe gleichgülüg," bemerkte die 
Tigerlilie. „Wenn nur ihre Blätter ein bißchen mehr 
gekräuselt wären, dann wäre sie ganz in Ordnung." 

Alice ließ sich nicht gern kritisieren, also fing 
sie an, Fragen zu stellen. „Fürchtet Ihr Euch nicht 
manchmal, wenn Ihr da draußen eingepflanzt seid 
und niemanden habt, der auf Euch achtgibt?" 

2- 19 



„Wir haben doch den Baum in der Mitte!" sagte 
die Rose. „Wozu wäre der sonst da? Er weidet uns 
wie der Hirt seine Herde; deshalb heißt er, Weide'." 

„Aber was könnte denn der Baum tun, wenn Ihr 
in Gefahr wäret?" fragte Alice. 

„Er könnte trauern," sagte die Rose. 

„Es ist doch eine Trauerweide!" rief ein Gänse- 
blümchen. „Siehst du denn das nicht?" 

„Hast du das nicht gewußt?" schrie ein anderes 
Gänseblümchen, und sie fingen alle an, zugleich durch- 
einander zu schreien, bis die Luft ganz erfüllt schien 
von kleinen schrillen Stimmen. 

„Still da, Ihr alle!" rief die Tigerlilie, neigte sich 
heftig von einer Seite auf die andere und zitterte vor 
Aufregung. „Sie wissen, daß ich sie nicht erwischen 
kann," keuchte sie und neigte ihr bebendes Haupt 
gegen Alice; „oder sie würden sich das nicht unter- 
stehen!" 

„Mach dir nichts draus!" sagte Alice tröstend und 
beugte sich zu den Gänseblümchen nieder, die gerade 
wieder anfingen zu schreien. Sie flüsterte : „Wenn Ihr 
nicht still seid, dann pflüd^e ich Euch!" 

Sie waren augenblicklich still und einige von den 
rosa Gänseblümchen erblaßten. 

„So ists recht!" sagte die Tigerlilie. „Die Gänse- 
blümchen sind die allerschlimmsten ; wenn eines 
spricht, fangen sie alle zugleich an zu schnattern. Es 
bringt einen ordentlich zur Raserei, wenn man das 
mit anhören muß." 

„Wie kommt es nur, daß ihr alle so hübsch 
sprechen könnt?" fragte Alice; sie hoffte, sie 
durch ein Kompliment in bessere Laune zu bringen. 
„Ich bin schon in vielen Gärten gewesen, aber 
niemals haben die Blumen sprechen können." 

20 



„In anderen Gärten sind so viele Beete," erklärte 
die Tigerlilie, „daß die Blumen vor lauter Beten nicht 
Zeit haben, zu sprechen." 

Das schien ein ausreichender Grund zu sein und 
Alice freute sich, es zu erfahren. „Daran habe ich 
nie vorher gedacht", sagte sie. 

„Meiner Meinung nach denkst du überhaupt nie- 
mals", sagte die Rose streng. 

„Ich habe niemals jemanden gesehen, der dümmer 
aussieht," sagte ein Veilchen so plötzlich, daß Alice 
erschreckt zusammenfuhr. Es hatte vorher noch nicht 
gesprochen. 

„Du halte den Mund!" rief die Tigerlilie, „als ob 
du jemals jemanden sehen würdest! Du steckst den 
Kopf unter deine Blätter und wächst da unten fort; 
du weißt nicht mehr von dem, was in der Welt vor- 
geht, als wenn du eine Knospe wärst." 

„Gibt es vielleicht noch Menschen im Garten außer 
mir?" fragte Alice, ohne die letzte Bemerkung der 
Rose zu beachten. 

„Es gibt noch eine Blume außer dir im Garten, 
die herumgehen kann, wie du," sagte die Rose. „Ich 
möchte gerne wissen, wie du das machst. — („Du 
möchtest immer gerne etwas wissen", sagte die Tiger- 
lilie.) „Aber sie ist viel buschiger als du." 

„Sieht sie mir ähnlich?" fragte Alice eifrig, denn 
es fiel ihr ein, daß irgendwo im Garten noch ein 
kleines Mädchen sein könnte. 

„Ja, sie hat dieselbe ungeschickte Form wie du," 
sagte die Rose. 

„Aber sie ist dunkler — und ihre Blätter sind 
kürzer, glaube ich." 

„Sie sind dicht beieinander, wie bei einer Georgine," 
sagte die Tigerlilie. „Nicht so durcheinander ge- 
wirbelt, wie bei dir." 

21 



„Aber da kannst du nichts dafür," setzte die Rose 
freundlich hinzu. „Du fängst schon an zu welken, 
weißt du — und da kommen die Blätter leicht ein 
bißchen in Unordnung." 

Alice gefiel diese Vorstellung nicht; so fragte sie, 
um den Gegenstand zu wechseln: „Kommt sie jemals 
hier heraus?" 

„Ich glaube, du wirst sie bald sehen," sagte die 
Rose. „Sie ist eine von denen, die neun Zacken hat, 
weißt du?" 

„Wo trägt sie sie denn?" fragte Alice neugierig. 

„Natürlich um den Kopf herum," antwortete die Rose. 

„Ich wundere mich, daß du nicht auch welche hast. 
Ich habe geglaubt, daß das bei euch Regel ist." 

„Sie kommt!" rief der Rittersporn. „Ich höre ihren 
Tritt, tripp, trapp auf dem Kies!" 

Alice schaute neugierig herum und sah, daß es 
die schwarze Königin war. „Sie ist sehr gewachsen!" 
bemerkte sie vor allem. In der Asche war sie nur 
drei Zoll hoch gewesen und jetzt war sie einen halben 
Kopf größer als Alice. 

„Das kommt von der frischen Luft," sagte die Rose. 
„Die Luft ist hier wundervoll." 

„Ich glaube, ich muß ihr entgegengehen," sagte 
Alice. Denn obwohl die Blumen sehr interessant waren, 
fühlte sie, daß es doch noch etwas ganz anderes sein 
würde, mit einer wirklichen Königin zu sprechen. 

„Das kannst du nicht," sagte die Rose. „Ich würde 
dir raten, in der umgekehrten Richtung zu gehen." 

Das schien AHce Unsinn. Darum antwortete sie 
nichts und ging der schwarzen Königin entgegen. Zu ihrer 
Überraschung verlor sie sie sogleich aus dem Gesicht 
und marschierte wieder bei der Eingangstür herein. 

Ärgerlich ging sie zurück und nachdem sie die 
Königin überall gesucht hatte (sie sah sie endlich 

22 



in weiter Entfernung), wollte sie es anders probieren 
und diesmal in der entgegengesetzten Riditung 
gehen. 

Das gelang auch vorzüglich. Sie war noch keine 
Minute gegangen, so befand sie sich schon der 
schwarzen Königin gegenüber und hatte den Hügel, 
dem sie so lange vergebens zugestrebt hatte, gerade 
vor sidi. 

„Von wo kommst du?" fragte die schwarze Königin. 
„Und wohin gehst du? Kopf in die Höhe, spridi 
deutlidi und spiel nicht fortwährend mit deinen 
Fingern!" 

Alice folgte allen diesen Vorschriften und erklärte, 
so gut sie konnte, daß sie ihren Weg verloren 
habe. 

„Ich weiß nicht, was du meinst, wenn du sagst, 
deinen Weg," sagte die Königin. „Alle diese W^ege 
gehören mir. — Aber warum bist du überhaupt hier 
herausgekommen?" fügte sie in freundlicherem Tone 
hinzu. „Knidjse, während du darüber nachdenkst, was 
du sagen willst; das erspart Zeit." 

Alice wunderte sidi, aber sie hatte zu großen 
Respekt vor der Königin, um ihre Worte anzuzweifeln. 
Idi will das nädistens zuhause probieren, dadite 
sie bei sich, wenn idi zu spät zu Tisdi komme. 

„Jetzt ist es Zeit zu antworten," sagte die Königin 
und sdiaute auf die Uhr. „Mach deinen Mund ein 
bißchen weiter auf, wenn du sprichst, und sag immer: 
,Eure Majestät'." 

„Ich wollte mir nur den Garten ansehen. Eure 
Majestät." 

„Das ist redit," sagte die Königin und tätsdielte 
sie am Kopf, was Alice durdiaus nic^t angenehm war, 
„Allerdings — weil du ,Garten' sagst — ich habe Gärten 
gesehen, mit denen verglidien dieser eine Wildnis ist." 

23 



Alice wagte nicht zu widersprechen, sondern fuhr 
fort: „ — Und ich hoffte den Weg auf den Gipfel 
jenes Hügels zu finden." 

„Weil du ,Hügel* sagst," unterbrach die Königin; 
„ich könnte dir Hügel zeigen, mit denen verglichen 
du diesen ein Tal nennen würdest." 

„Oh nein, das würde ich nicht tun," sagte Alice. 
„Ein Hügel kann kein Tal sein, das wäre ein Unsinn." 

Die schwarze Königin schüttelte den Kopf. „Du 
kannst es Unsinn nennen, wenn du willst," sagte sie. 
„Aber idi habe schon Unsinn gehört, mit dem ver- 
glichen dieser so vernünftig ist wie ein Lexikon." 

Alice knickste wieder, denn sie fürchtete nach dem 
Ton, in dem die Königin sprach, daß sie ein klein 
wenig beleidigt sei. Sie gingen schweigend weiter, 
bis sie auf den Gipfel des kleinen Hügels kamen. 

Minutenlang stand Alice sprachlos und schaute nach 
allen Richtungen über das Land hin. Es war ein höciist 
sonderbares Land. Eine Menge winzig kleiner Bäche 
liefen mitten durch, und der Boden dazwischen war 
durch viele kleine grüne Hecken, die von Bach zu 
Bach reichten, in Quadrate abgeteilt. 

„Das ist ja gerade so gezeichnet, wie ein großes 
Schachbrett," sagte Alice endlich. „Irgendwo sollten 
Leute herumgehen — aber da gehen sie jal" fügte 
sie entzückt hinzu, und ihr Herz fing an, schneller zu 
schlagen, während sie fortfuhr: „Es wird gerade eine 
riesige Schachpartie gespielt — über die ganze Welt 
hin, wenn das hier die Welt ist. Oh, wie lustig! Wenn 
ich nur mitspielen könnte ! Es würde mir nichts daran 
liegen, nur ein Bauer zu sein, wenn ich mitspielen 
dürfte, — obwohl ich natürlich am liebsten eine Königin 
sein würde." 

Hier schaute sie die wirkliche Königin ängstlich an ; 
aber diese lächelte nur freundlich und sagte: „Das 

24 



ist leicht getan. Du kannst der Bauer der weißen 
Königin sein, wenn du willst, denn Lily ist zu jung, 
um mitzuspielen. Zuerst stehst du in der zweiten 
Reihe, wenn du aber in die achte Reihe kommst, 
dann wirst du eine Königin." In diesem Augenblick 
begannen sie zu laufen. 

Alice konnte, wenn sie später darüber nach- 
dachte, niemals herausbringen, wie sie zu laufen an- 
fingen; sie erinnerte sidi nur, daß sie Hand in Hand 
liefen und daß die Königin so schnell rannte, daß 
Alice kaum mit ihr Sdiritt halten konnte; und immer 
noch rief die Königin: „Schneller, schneller!" Aber 
Alice fühlte, daß sie nicht schneller laufen konnte, 
obwohl sie nidit genug Atem hatte, um es ihr zu 
sagen. 

Das Sonderbarste daran war, daß die Bäume und 
die anderen Gegenstände um sie herum ihre Plätze 
niemals veränderten. So sdinell Alice und die Königin 
auch liefen, sie schienen niemals an etwas vorbei- 
zulaufen. 

Ob sidi die Dinge alle mit uns bewegen? 
dadite die arme Alice verwirrt. Die Königin schien 
ihre Gedanken zu erraten, denn sie rief: „Sdmeller, 
nicht reden!" 

Alice dadite nidit im Entferntesten daran, zu reden. 
Es war ihr, als würde sie niemals mehr imstande sein, 
zu sprechen, so atemlos war sie. Und immer noch 
schrie die Königin: „Sdineller, schneller!" und schleppte 
sie weiter. 

„Sind wir endlich da?" konnte Alice gerade noch 
hervorkeudien. 

„Endlidi da?" wiederholte die Königin. „Wir sind 
sdion zehn Minuten vorüber! Schneller!" Und sie Hefen 
eineZeitlang schweigend, während derWindAlice um die 
Ohren pfiff und ihr beinahe das Haar vom Kopfe blies. 

25 



„Also, also!" rief die Königin, „schneller, schneller I" 
und sie liefen so schnell, daß sie zuletzt durch die 
Luft zu fliegen schienen, ohne den Boden mit den 
Füßen zu berühren, bis sie plötzlich, als Alice ganz 
erschöpft war, stehen blieben. Atemlos und sdiwindlig 
saß sie auf dem Boden. 

Die Königin lehnte sie gegen einen Baum und sagte 
freundlich: „Jetzt kannst du ein bißchen ausruhen." 

Alice schaute in großer Überrasdiung herum. „Ich 
glaube wahrhaftig, wir sind die ganze Zeit unter diesem 
Baum geblieben; alles ist genau so wie es war!" 

„Natürlich", sagte die Königin, „wie denn sonst?" 

„In unserem Lande", sagte Alice, nodi immer 
keuchend, „würde man, wenn man so lange und so 
schnell liefe, wie wir jetzt gelaufen sind, irgendwo 
anders hinkommen." 

„Das muß ein sehr langsames Land sein," sagte 
die Königin, „hier mußt du laufen, so sdmell du kannst, 
um nur auf demselben Platz zu bleiben. Wenn du 
irgendwo anders hinkommen willst, mußt du mindestens 
doppelt so schnell laufen . . ." 

„Ich möchte das lieber nidit versuchen, bitte!" sagte 
Alice. „Ich bin ganz zufrieden, hier zu bleiben, nur ist 
mir sehr heiß und ich bin furchtbar durstig!" 

„Ich weiß, was du jetzt gern hättest," sagte die 
Königin und nahm eine kleine Schachtel aus ihrer 
Tasche. „Nimm einen Zwiebäcke." 

Alice hielt es nicht für artig, abzulehnen, obwohl sie 
etwas ganz anderes gerne gehabt hätte. So nahm sie den 
Zwieback und aß ihn, so gut sie konnte. Er war entsetzlich 
trocicen, und sie hatte nie im Leben so einen Durst gehabt. 

„Während du dich erfrischst," sagte die Königin, 
„werde ich messen." 

Sie nahm ein Band aus der Tasche, das mit Zoll- 
strichen bezeichnet war, und fing an, den Boden 

26 



auszumessen und hie und da kleine Pflödce hineinzu- 
stecken. „Am Ende des zweiten Meters," sagte sie 
und stedcte einen Pflodc in die Erde, um die Ent- 
fernung zu bezeichnen, „werde idi dir die Verhaltungs- 
maßregeln geben. Willst du nodi einen Zwieback?" 

„Nein, danke," sagte Alice, „idk habe ganz genug!" 

„Dein Durst ist hoffentlich gelöscht," sagte die 
Königin. Alice wußte nidit, was sie dazu sagen sollte. 
Aber glücklidierweise erwartete die Königin auch keine 
Antwort, sondern sprach weiter: „Am Ende des dritten 
Meters werde ich sie wiederholen, damit du sie nidit 
vergißt. Am Ende des vierten Meters werde idi dir Lebe- 
wohl sagen, am Ende des fünften werde ich fortgehen." 

Sie hatte jetzt alle Pflöcke in die Erde gesteckt, und 
Alice schaute mit großem Interesse zu, wie sie zum 
Baum zurückging und dann den Weg langsam hinunter- 
marschierte. Beim Pflodc Nummer zwei wandte sie 
sich um und sagte: „Ein Bauer geht zwei Felder bei 
seinem ersten Zug, wie du weißt. Du wirst also sehr rasdi 
durch das dritte Feld gehen — am besten mit Eisen- 
bahn — und du wirst dich bald im vierten Felde befinden. 
Nun, dieses Feld gehört Dideldum und Dideldei. — 
Das fünfte ist hauptsächlich Wasser — das sechste 
gehört Plumpsti Bumsti. Aber du sagst ja gar nichts?" 

„Ich wußte nicht, daß ich etwas hätte sagen sollen," 
stotterte Alice. 

„Du hättest sagen sollen: ,Es ist außerordentlich 
freundlich von Ihnen, daß Sie mir all das erklären'," 
sagte die Königin vorwurfsvoll. „Aber wir wollen an- 
nehmen, daß du es gesagt hättest. — Das siebente 
Feld ist lauter Wald — aber einer der Ritter wird 
dir den Weg hindurch zeigen. — Und im achten Feld 
werden wir zusammen Königinnen sein; es besteht 
aus lauter Festen und Spaßen I" 

Alice stand auf, knici^ste und setzte sich wieder. 

27 



Beim nächsten Pflock drehte sich die Königin 
neuerlich um, und diesmal sagte sie: „Spridi fran- 
zösisch, wenn dir etwas auf Deutsdi nicht einfällt. 
Wende deine Zehen beim Gehen auswärts — und ver- 
giß nicht, wer du bisti" Sie wartete diesmal nicht ab, bis 
Alice knickste, sondern ging rasdi zum nächsten Pflock, 
wo sie sich für einen Augenblick umdrehte, um Lebe- 
wohl zu sagen. Dann eilte sie auf den letzten Pflock zu. 

Wie es zuging, hat Alice niemals begriffen, aber 
gerade als sie zum letzten Pflock kam, war sie ver- 
schwunden. Ob sie in Luft zerfloß oder ob sie rasdi in 
den Wald lief (und sie kann sehr sdinell rennen, dachte 
Alice) war nicht zu enträtseln. Aber fort war sie, und 
Alice fing an, sich zu erinnern, daß sie jetzt ein 
weißer Bauer war, und daß es für sie bald an der 
Zeit sein werde, vorzugehen. 



28 



III. Kapitel. 

Spiegelinsekten. 



Natürlidi überschaute sie vor allem das Land, das sie 
durdisdireiten sollte. 

Das ist beinahe wie eine Geographiestunde, 
dachte Alice und stellte sich auf die Zehenspitzen, 
um ein wenig weiter zu sehen. Hauptflüsse — gibt 
es nicht. Hauptgebirge — ich stehe auf dem einzigen, 
aber es hat wahrscheinlich keinen Namen. Hauptstadt 

— nein. Was sind das nur für Tiere, die dort Honig 
sammeln? Bienen können es nicht sein — niemand 
könnte auf eine Meile Distanz Bienen sehen. Eine 
Zeitlang stand sie schweigend still und beobachtete 
eines dieser Tiere, das zwischen den Blumen herum- 
flog und seinen Rüssel hineinstedcte. Gerade, als 
ob es eine richtige Biene wäre, dadite Alice. 

Es war aber alles eher denn eine richtige Biene, 

— es war ein Elefant, wie Alice sehr bald entdeckte, 
obwohl der Gedanke ihr fast den Atem verschlug. 
Und was das für riesige Blumen sein müssen! — 
war ihr nächster. Wie Häuser ohne Dächer, auf 
Stengeln. Was für Unmengen Honig die sammeln 
müssen! Icii glaube, ich muß hingehen — nein, icii geh 
dodi lieber nicht hin. Sie hatte gerade angefangen, bergab 
zu laufen, und hielt ein ; sie suchte nach einer Entschuldi- 
gung dafür, daß sie plötzlicii so ängstlich wurde. „Ich 
kann unmöglich zu ihnen hingehen, ohne einen Zweig 
mitzunehmen, um mir sie abzuwehren. — Wie komisch 
das nur sein wird, wenn man mich zu Hause fragt, wie 
mir der Spaziergang gefallen hat. Icii werde sagen : ,Oh, 
ganz gut, nur war es furciitbar staubig und heiß, und 
die Elefanten haben so um midi herumgeschwirrf !" 

29 



„Ich denke, idi gehe lieber den anderen Weg 
hinunter," sagte sie nadi einer Pause. „Ich kann ja die 
Elefanten vielleicht später besuchen. Idi möchte so gern 
sdion ins dritte Feld kommen I" Das war eine sehr 
gute Ausrede. — So lief sie über den Hügel hinunter 
und sprang über den ersten der sechs kleinen Bäche. 

„Fahrkarten bitte!'' sagte der Schaffner und steckte 
den Kopf zum Fenster herein. Sogleich hielten alle ihre 
Karten hin. Die Karten waren ungefähr ebenso groß 
wie die Leute und schienen den Wagen vollständig 
zu füllen. 

„Nun also! Zeig deine Fahrkarte, Kind!" sagte 
der Schaffner wieder und schaute Alice ärgerlich an; 
und viele Stimmen sagten zugleich (wie der Chor in 
einem Lied, dadite Alice): „Laß ihn nicht warten, 
Kind! Seine Zeit kostet tausend Taler die Minute!" 

„Ich habe leider keine Karte," sagte Alice ängstlich. 
„Es gab keinen Fahrkartensdialter dort, wo ich her- 
komme." Und wieder fiel der Chor der Stimmen ein: 
„ Es war kein Platz für einen Fahrkartenschalter dort, wo sie 
herkommt. Das Land dort kostet tausend Taler der Zoll" 

Alice dachte bei sidi: Da nützt es nichts, zu reden. 

Die Stimmen fielen diesmal nicht ein, denn sie 
hatte ja nicht gesprochen. Aber zu ihrer großen 
Überraschung dachten alle im Chor (ich hoffe, du 
verstehst, was das heißt: im Chor denken — ich 
verstehe es nämlich nidit): Es ist besser, nichts zu 
sagen; die Sprache kostet tausend Taler das Wort! 

Ich werde heute nachts von tausend Talern träumen, 
das weiß ich sicher! dachte Alice. 

Die ganze Zeit schaute der Schaffner sie an, zuerst 
durch ein Fernrohr, dann durch ein Mikroskop und dann 
durch ein Opernglas. Endlidi sagte er: „Dureisestin 
der falschen Riditung," schloß das Fenster und ging weg. 

30 



„Ein so kleines Mäddien/ sagte der Herr, der 
ihr gegenüber saß (er war in weißes Papier gekleidet), 
„sollte wissen, in welcher Richtung es fährt, sogar 
wenn es seinen eigenen Namen noch nidit weiß." 

Ein Ziegenbock, der neben dem Herrn in Weiß 
saß, sdiloß die Augen und sagte mit lauter Stimme: 
„Sie sollte die Riditung zum Fahrkartenschalter kennen, 
sogar, wenn sie das Alphabet noch nidit kennt." 

Neben dem Ziegenbock saß ein Käfer. (Es war 
da eine sehr sonderbare Reisegesellschaft beisammen.) 
Da es die Regel zu sein schien, daß man der Reihe 
nach redete, setzte er fort: „Sie wird als Frachtgut 
von hier zurückgeschidct werden müssen!" 

Alice konnte nicht sehen, wer neben dem Käfer 
saß, aber jetzt sagte eine heisere Stimme: „Lokomotiv- 
wechsel!" Hiebet überschlug sich die Stimme und 
mußte aufhören. 

„Das war vielleicht ein Heizer," sagte Alice zu sidi 
selbst und eine außerordentlich dünne Stimme sagte 

knapp an ihrem Ohr: „Daraus könntest du einen Wiiz madien — 
etv/as von heiser und Heizer." 

Dannsagte eine sehr sanfteStimme in der Ferne: „Man 
muß ihr einen Zettel ankleben: ,Mädchen, nidit stürzen'." 

Darauf sagten andere Stimmen (Wie viele Leute 
nur in diesem Wagen sitzen, dadite Alice.): „Man 
muß sie per Post schidcen, denn sie hat einen Brief- 
kopf." „Man muß sie als Telegramm oder durchs 
Telephon schidcen." „Sie muß von hier an den Zug 
selber ziehen" — und so weiter. 

Aber der in weißes Papier gekleidete Herr beugte 
sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: „Beachte nicht, 
was sie sagen, meine Liebe, sondern nimm eine Rück- 
fahrkarte, so oft der Zug hält." 

„Das werde ich nicht tun!" sagte Alice ungeduldig. 
„Idi gehöre überhaupt nidit hier herein. Ich bin gerade 

31 



in einem Wald gewesen — und idi wollte, idi könnte 
dorthin zurückgehen." 

„Da könntest du einen Witz machen," Sagte die dÜnne Stimme 
knapp an ihrem Ohr. „So etwas, wie : du wolltest, wenn du könntest." 

„Du kitzelst mich im Ohr," sagte Alice und schaute 
sich vergeblidi dorthin um, wo die Stimme herkam. 
„Wenn du immer willst, daß ein Witz gemacht wird, 
warum machst du ihn nicht selbst ?** 

Die dünne Stimme seufzte tief. Sie war offenbar 
sehr unglücklich ; Alice hätte ihr gerne etwas Tröstendes 
gesagt. „Wenn sie nur so seufzen würde, wie andere 
Leute," dachte Alice; aber es war ein so außer- 
ordentlich dünner Seufzer, daß es sie im Ohr sehr stark 
kitzelte und sie völlig von dem Gedanken an die 
Traurigkeit des armen kleinen Wesens ablenkte. 

„Ich weiß, du bist meine Freundin," fuhr die düuue Stimme fort. 

„Eine liebe Freundin, eine alte Freundin. Du wirst mtr nidit weh tun, obgleidi idi 
ein Insekt bin." 

„Was für ein Insekt?" fragte Alice etwas beun- 
ruhigt. Sie wollte eigentlidi nur wissen, ob es stechen 
könne oder nicht; aber sie dadite, es sei vielleicht 
nicht schicklich, das zu fragen. 

„Was, hast du denn nicht " begann die düuuc Stimme. 

Ein schriller Pfiff der Lokomotive unterbrach sie; alle 
sprangen erschrodcen auf; auch Alice. 

Der Heizer, der seinen Kopf zum Fenster hinaus- 
gesteckt hatte, zog ihn ruhig wieder zurück und sagte: 
„Wir haben bloß einen Bach zu überspringen." Alle 
schienen beruhigt zu sein, aber Alice war doch ängst- 
lich bei dem Gedanken, daß ein Eisenbahnzug springen 
sollte. „Nun, jedenfalls wird er uns in das vierte Feld 
führen, das ist immerhin ein Trost!" sagte sie sidi. Im 
nächsten Augenblidt fühlte sie, wie der Wagen gerade- 
wegs in die Luft stieg, und in ihrem Schreck faßte sie 
das, was ihren Händen am nächsten war, und das war 
der Bart des Ziegenbod^s. — — — — — — 

32 



Aber der Bart schien zu sdimelzen, als sie ihn be- 
rührte, und sie saß plötzlidi ruhig unter einem Baum, 
während die Gelse (denn das war das Insekt, mit 
dem sie gesprodien hatte), auf einem Zweig über 
ihrem Kopfe schaukelte und Alice mit ihren Flügeln 
Luft zufächelte. 

Es war wirklich eine sehr große Gelse: Ungefähr 
so groß wie ein Huhn, dadite Alice, aber sie konnte 
sich nidit vor ihr fürchten, nachdem sie so lange mit- 
einander geplaudert hatten. 

.Hast du denn nicht alle Insekten gern?« fuhf diC GclsC foft, SO 

ruhig, als wenn nichts gesdiehen wäre. 

»Ich habe sie gern, wenn sie sprechen können,* 
sagte Alice. „Dort wo ich herkomme, kann keines 
sprechen." 

,An weldiem Insekt hast du Freude, dort wo du herkommst?' erkundigte 

sich die Gelse. 

„Ich habe überhaupt keine Freude an Insekten,* 
erklärte Alice, „weil ich midi eigentlidi vor ihnen 
fürdite — wenigstens vor den großen. Aber idi kann 
dir von einigen den Namen sagen." 

„Natürlich hören sie auf ihre Namen?« bemerkte diC GclsC 

leichthin. 

„Idi glaube nidit." 

«Was nützt es, daß sie Namen haben," Sagte dlC GclsC, .wenn sie 
nidit auf ihre Namen hören?' 

„Ihnen nützt es nidits," sagte Alice, „aber es nützt 
wahrscheinlich den Leuten, die sie benennen. Warum 
würden denn sonst die Dinge überhaupt Namen haben?* 

.Das weiß idi nicht,' antwortete die Gelse. „Weiter drüben, in 
dem Wald dort, haben sie keine Namen. — Aber fahre nur fort mit deiner Liste 
-von Insekten, du verlierst Zeil." 

„Also da ist die Pferdebremse," begann Alice und 
zählte die Namen an den Fingern her. 

„Sehr gut," Sagtc diC Gelse. „Auf diesem Busch kannst du eine 
Schaukelpferdebremse sehen. Sie ist ganz aus Holz und bewegt sidi fort, indem 
^ie von Zweig zu Zweig sciiaukelt.' 

, 33 



„Wovon lebt sie?'' fragte Alice sehr neugierig. 

„Von Saft und Samen," Sagte die Gelse. „Fahr fort mit deiner Liste.« 

Alice sdiaute die Sdiaukelpferdebremse mit großem 
Interesse an und stellte fest, sie müsse kürzlich frisch 
lackiert worden sein, weil sie so glänzend und klebrig 
aussah. 

„Und dann die Wespe," fuhr Alice fort. 

„Sdiau auf den Zweig über deinem Kopf," Sagtc die GelsC. „Dort 
siehst du zwei Wespennester. Sic sind aus weißem Kuchenteig und innen sind 
Mandeln und Rosinen." 

„Und wovon leben sie?" fragte Alice wie vorher, 

„Von Zucker und Mehl," autWOrtetC die GclsC. .Sie wohnen am 
liebsten in der Nähe einer Kaffeetasse." 

„Dann gibt es nodi den Brotkäfer," fuhr Alice 
fort, nachdem sie die Wespennester mit liebevollem 
Blick betradrtet hatte. (Die beißen nicht, in die würde 
icii selber gerne hineinbeißen, dachte sie.) 

„Was da vor deinen Füßen kriecht," Sagte die Gclse (Alice 
zog ihre Füße erschrocken ZUrÜd^) „ist ein Butterbrotkäfer, seine 
Flügel sind dünne Butterbrotsdinitlen, sein Körper ist eine Brotrinde und sein 
Kopf ist -ein Stüdc Zucker." 

„Und wovon lebt er?" 

„Von Milchkaffee." 

Eine neue Schwierigkeit kam Alice in den Sinn» 
„Wenn er aber keinen findet?" 

„Dann stirbt er natürlich." 

„Das muß aber oft geschehen," bemerkte Alice 
nachdenklich. 

„Es geschieht immer," Sagte diC GelsC. 

Alice schwieg ein paar Minuten und dachte nach. 
Indessen unterhielt sidi die Gelse damit, ihr summend 
um den Kopf zu fliegen. Endlich setzte sie sich wieder 

nieder und fragte: „Du möchtest wohlmdit gerne deinen Namen verlieren?" 

„Nein, durdiaus nicht," sagte Alice ängstlich. 

„Und doch, wer weiß," Warf die Gclse leicht hin. „überleg dir 
nur einmal, wie bequem es wäre, wenn du ohne Namen nach Hause kämst. Zum 
Beispiel, wenn die Lehrerin dich zur Stunde ruft, würde sie rufen : ,Komm her' — 
und dann könnte sie nichts weiter sagen, weil sie keinen Namen rufen könnte,, 
und natürlich brauchtest du nicht zu kommen." 

34 



„Das würde mir nichts helfen," sagte Alice. „Die 
Lehrerin würde mir die Stunden deshalb doch nicht er- 
lassen. Wenn sie meinen Namen nidit wüßte, dann würde 
sie midi »Fräulein* nennen, wie die Dienstmädchen." 

„Wenn sie dich aber Fräulein nennen würde," bemerkte die GclsC, 
„dann würdest du didi wieder über die Stunde fräuen, nicht? Das war ein 
Witz; idi wollte, du hättest ihn gemacht." 

„Warum wolltest du das?" fragte Alice. „Es ist ein 
sehr schlechter Witz." 

Aber die Gelse seufzte nur tief auf, wobei ihr zwei 
große Tränen über die Wangen liefen. 

„Du solltest keine Witze machen, wenn es dich, so 
aufregt," sagte Alice. 

Da kam wieder einer von diesen melancholischen 
Seufzern, und diesmal schien sich die arme Gelse 
wirklich hinweggeseufzt zu haben, denn als Alice 
emporschaute, war auf dem Zweig nichts mehr zu sehen. 

Es war Alice vom langen Sitzen kühl geworden; 
sie stand auf und ging weiter. Bald kam sie zu 
einem offenen Feld, an dessen anderem Ende ein 
Wald war; der schaute viel dunkler aus, als der 
letzte, und sie fürchtete sich ein wenig, hineinzugehen. 
Aber dann entsciiloß sie sich doch dazu. Denn ich 
will doch nicht zurüdkgehen, dachte sie bei sich, und 
es war der einzige Weg zum achten Feld. 

„Das muß der Wald sein, in dem die Dinge keinen 
Namen haben," sagte sie nachdenklich. „Was wird 
nur aus meinem Namen werden, wenn ich da hinein- 
gehe? Ich würde ihn niciit gerne verlieren — , denn 
man würde mir doch einen anderen geben, und sicher- 
lich einen häßlicheren. Aber es wäre lustig, wenn ich 
das Wesen treffen würde, das meinen alten Namen 
gefunden hat! Es wäre geradeso wie in den Zeitungs- 
ankündigungen, wo die Leute verlorene Hunde suchten: 
„„Er hört auf den Namen ,Nero' und hat ein 

35 



Messinghalsband um — ."" Nein; wenn idi mir vorstelle, 
daß ich alles, was mir entgegenkommt, ,Alice' anrufen 
müßte, um herauszubringen, wer auf meinen Namen 
hörti Und vielleidit würde gar niemand auf ihn hören!" 

Sie schlenderie weiter und kam an den Wald. Er 
sdiaute sehr kühl und schattig aus. „Nun, jedenfalls 
ist es hier angenehm," sagte sie, als sie unter die 
Bäume trat. „An einem so heißen Tag geht man gern 

in den — in den — in was denn nur?" Sie 

konnte sich auf das Wort nidit besinnen. „Ich meine 
unter den — unter das zu kommen" und sie legte 
ihre Hand auf einen Baumstamm. „Wie heißt das nur? 
Ich glaube, es heißt überhaupt nicht! — Natürlich nicht!" 

Sie stand eine Weile nachdenklich still; dann fing 
sie wieder an: „Also es ist wirklich geschehen! und 

idtx bin jetzt, ich muß mich daran erinnern, ich 

will es!" Aber Müssen und Wollen halfen ihr nichts, 
und schließlicii fiel ihr nach angestrengtem Nachdenken 
doch nur das eine ein: „Ich weiß, es beginnt mit 
einem L." 

Da kam gerade ein Reh heran. Es betrachtete Alice 
mit seinen großen, sanften Augen, schien aber gar 
nicht erschrocken. — „Komm her, komm her!" sagte 
Alice, streckte die Hand aus und versuchte, das Tier 
zu streicheln. Es fuhr nur ein bißchen zurück, blieb 
dann wieder vor ihr stehen und schaute sie an. 

„Wie heißest du?" fragte das Reh endlich. Was 
für eine liebe, sanfte Stimme es hatte! 

Wenn ich das nur wüßte! dachte die arme Alice 
und antwortete ziemlich traurig: „Ich heiße jetzt gar 
niciit." 

„Denk nur nach!", sagte das Reh, „das gibt es nicht." 

Alice dachte nach, aber es kam nichts dabei heraus. 
„Bitte, kannst du mir nicht sagen, wie du heißest?" 

36 



fragte sie sdiüditern. „Das würde mir vielleicht ein 
bißdien helfen.* 

„Idi will es dir sagen, wenn du ein Stüdc weiter 
mitkommst," sagte das Reh. „Hier fällt esmirnidit ein." 

So gingen sie miteinander durch den Wald. Alice 
hielt den Arm zärtlich um den weichen Hals des Reh- 
leins geschlungen, bis sie in ein anderes offenes Feld 
kamen. Da sprang das Reh mit einem plötzlichen Ruck 
in die Luft und schüttelte Alicens Arm ab. „Ich bin 
ein Reh!" rief es entzüdct aus. „Und, wahrhaftig — 
du bist ein Menschenkind!" Plötzlich kam ein Aus- 
druck von Angst in seine schönen, braunen Augen, 
und im nächsten Augenblick war es in höchster Eile 
davon gesprungen. 

Alice sah ihm nach, fast weinend darüber, daß sie 
ihren lieben kleinen Weggefährten so rasch verloren 
hatte. „Ich weiß aber wenigstens jetzt meinen Namen," 
sagte sie. „Das ist doch ein Trost. Alice — Alice — 
jetzt werde ich ihn nicht wieder vergessen. Welchem 
von diesen zwei Wegweisern soll ich jetzt folgen?" 

Diese Frage war nicht sehr schwer zu beantworten, 
denn es ging nur ein Weg durch den Wald und die 
zwei Wegweiser zeigten beide in dieselbe Richtung. 
„Ich werde das entscheiden," sagte Alice, „sobald 
der Weg sich teilt und sobald sie nach verschiedenen 
Richtungen zeigen." 

Sie ging weiter, und immer weiter; aber so oft 
der Weg sich teilte, wiesen beide Wegweiser stets in 
dieselbe Richtung. Auf dem einen stand: „zu Dideldum" 
und auf dem anderen „zu Dideldei." 

„Ich glaube wahrhaftig," sagte Alice endlich, „daß 
die zwei im selben Haus wohnen. Komisch, daß ich 
früher nicht daran gedacht habe! Aber lange kann 
ich nicht bei ihnen bleiben. Icii werde hineingehen, 
guten Tag sagen und sie um den Weg aus diesem 

37 



Wald fragen. Wenn idi nur auf das adite Feld kommen 
könnte, bevor es dunkel wirdl" 

So marsdiierte sie weiter und spradi im Gehen 
mit sich selbst, bis sie bei einer scharfen Wegbiegung 
plötzlich zwei dicke Männlein vor sich sah — so 
plötzlich, daß sie ersdirocken zurückfuhr. Aber im 
nädisten Augenblidc faßte sie sidi und wußte: das sind 



38 



IV. K a p i t e 1. 

Dideldum und Dideldci. 



Sie standen unter einem Baum, jeder einen Arm 
um des anderen Hals geschlungen. Alice wußte audi 
gleidi, weldier Dideldum war und welcher Dideldei. 
Der eine hatte nämlich auf seinem Kragen „Dum" 
eingestickt, der andere „Dei". (Wahrscheinlich steht 
bei beiden rückwärts „Didel", dadite sie.) Sie stand 
still und vergaß ganz, daß sie lebendige Leute vor 
sidi hatte; sie wollte gerade um sie herum.gehen, um 
nachzusehen, ob wirklidi das Wort „Didel" rückwärts 
auf ihrem Kragen stünde. Da wurde sie durch die 
Stimme des einen, der mit „Dum" bezeichnet war, 
aufgesdiredit. 

„Wenn du glaubst, daß wir Wachsfiguren sind, 
dann mußt du Eintrittsgeld zahlen. Wadisfiguren darf 
man nicht umsonst anschauen, durchaus nidit!" 

„Gegenteilig", fügte der andere, der mit „Dei" ge- 
merkt war, hinzu. „Wenn du aber glaubst, daß wir 
lebendig sind, dann mußt du etwas zu uns sagen." 

„Ich bitte vielmals um Verzeihung," war alles, was 
Alice sagen konnte, denn die Worte eines alten Liedes 
gingen ihr durch den Kopf und sie konnte sidi kaum 
zurückhalten, sie laut auszusprechen: 
Dideldum sagte: „Dideldei, 
wir müssen ein Duell austragen, 
denn du weißt, du hast mir mei- 
ne schöne neue Klapper zerschlagen." 

Da flog eine Riesenkrähe herbei 
pedxsdiwarz und windesschnell — 
da erschraken die Helden alle zwei 
und vergaßen ihr ganzes Duell. 

39 



„Idi weiß, woran du denkst," sagte Dideldum, „aber 
es ist nicht so, durchaus nicht," 

„Gegenteilig," ergänzte Dideldei. „Wenn es so 
wäre, dann könnte es so sein; wenn es so wäre, dann 
würde es so sein; da es aber nidit so ist, ist es 
nicht so; das ist logisch." 

„Ich habe darüber nachgedacht," sagte Alice höflich, 
„welches wohl der beste Weg aus diesem Wald 
ist. Es wird sehr dunkel. Bitte, sagen Sie es mir." 

Aber die dicken Männciien sdiauten einander bloß 
an und grinsten. Sie sahen Schuljungen so ähnlich, daß 
Alice sich nicht enthalten konnte, mit dem Finger auf 
Dideldum zu zeigen und zu sagen: „Der Erste". 

„Durchaus nicht!" rief Dideldum laut und ließ den 
Mund wieder zusammenklappen. 

„Der Zweite," sagte Alice und zeigte auf Didel- 
dei, obwohl sie sicher war, daß er „gegenteilig" aus- 
rufen würde; und das tat er auch. 

„Du hast falsch angefangen," rief Dideldei. „Das 
erste bei einem Besuch ist, guten Tag zu sagen und 
die Hand zu geben!" Hier umarmten die beiden 
Brüder einander zärtlich und streckten die beiden 
Hände, die sie frei hatten, Alice entgegen. 

Alice wollte keinem von ihnen zuerst die Hand 
geben, um den andern nicht zu beleidigen; so hielt 
sie es für das Beste, ihre Hände gleichzeitig zu fassen. 
Im nächsten Augenblick tanzten sie einen Ringelreihen. 

Das schien ihr ganz natürlicii (dessen entsann sie 
sich später); sie war nicht einmal überrascht, plötz- 
lich Musik zu hören. Diese schien aus dem Baum 
zu kommen, unter dem sie tanzten, und entstand (so- 
weit sie es feststellen konnte) dadurdi, daß die Zweige 
aufeinander geigten, wie Fiedel und Fiedelbogen. 
„Aber es war wirklich komisch," sagte Alice später, 
als sie ihrer Schwester die ganze Geschiciite erzählte, 

40 



„daß ich plötzlidi sang: ,Wir tanzen um den Maul- 
beerbusch/ Idi weiß nicht, wann es anfing, aber mir 
war, als hätte ich schon lange, lange gesungen." 

Die beiden andern Tänzer waren sehr dick und 
kamen bald außer Atem. 

„Viermal herum ist genug," keuchte Dideldei und 
dann hörten sie ebenso plötzlich zu tanzen auf, wie 
sie angefangen hatten. Im selben Augenblick sdiwieg 
audi die Musik. Sie ließen Alicens Hand los und 
schauten sie eine Weile an. Es war eine unangenehme 
Pause, denn Alice wußte nidit, wie man ein Ge- 
sprädi mit Leuten beginnt, mit denen man gerade 
getanzt hat. 

jetzt kann ich dodi nicht mehr „guten Tag" sagen, 
dachte sie; über das sind wir schon hinaus. 

„Ich hoffe, Sie sind nicht sehr müde," sagte sie 
endlich. 

„Durchaus nicht, und schönen Dank, daß du gefragt 
hast!" sagte Dideldum. 

„Danke tausendmal," fügte Dideldei hinzu. „Hörst 
du gern Gedichte aufsagen?" 

„Ja, ganz gern — manche Gedidite," sagte Alice 
zögernd. „Wollen Sie so gut sein, mir zu sagen, 
welcher Weg aus diesem Walde herausführt?" 

„V%^as soll idi ihr aufsagen?" fragte Dideldei und 
schaute mit großen Augen nadi Dideldum, ohne Alicens 
Frage zu beachten. 

„,Das Walroß und der Zimmermann* ist das 
längste," sagte Dideldei und umarmte seinen Bruder 
zärtlich. 

Dideldei begann sogleich: 
„Die Sonne schien — " 

Hier wagte Alice zu unterbrechen. „Wenn es sehr 
lang ist," sagte sie möglichst arüg, „dann sagen Sie 
mir doch, bitte, zuerst, welcher Weg — " 

41 



Dideldei lädielte freundlich und begann wieder: 

„Die Sonne schien das Meer entlang, 

sie schien mit aller Madit 

und sdieuerte die Wellen blank 

zu heller Glitzerpradit — 

Und das war sonderbar; es war 

ja mitten in der Nadit. 

Der Mond sdiien brummig, denn er fand, 

daß dies ein Unfug sei. 

„Wer braucht die dumme Sonne noch? 

Der Tag ist ja vorbei. 

jetzt hat sie nichts mehr hier zu* tun: 

Verdammte Bummeleil" 

Das Meer war über und über naß, 

staubtrocken war der Sand, 

man konnte nidit ein Wölkchen sehn, 

weil keins am Himmel stand, 

man sah kein Vöglein fliegen, weil 

sich keines dort befand. 

Das Walroß und der Zimmermann 
spazierten in der Näh. 
Sie weinten über so viel Sand 
und jammerten: „Oh wehl 
War hier nur besser ausgefegt, 
wie herrlich war die Seel" 

„Wenn sieben Mägde ein halbes Jahr 

hier fegten tagaus, tagein, 

was glaubst du — " fragte das Walroß sanft, 

„würde der Boden rein?" 

Draüf schluchzte laut der Zimmermann 

und sprach: „Ich fürchte, nein!" 



42 



„Ach, Austern!" rief das Walroß aus, 

„kommt doch zu uns ans Land! 

Es plaudert sidi so angenehm, 

lustwandelnd hier am Strand. 

Kommt — vier und vier — wir reichen dann 

jeder eine Hand." 

Die allste Auster sah ihn an 
und sprach kein Sterbenswort. 
Sie sdiüttelte das schwere Haupt 
Und blieb an ihrem Ort. 
Sie blinzelte verständnisvoll — 
Das hieß: „Ich geh nidit fort." 

Allein vier junge Austerchen, 
die krochen aus dem Nest 
und kamen, sauber abgeputzt, 
gekleidet wie zum Fest, 
zwar ohne Füße, doch die Schuh 
gebürstet auf das Best. 

Vier andre dann, und wieder vier 

und viere hinterher, 

so kamen viele, vier zu vier 

und immer mehr und mehr, 

so hüpften sie und schlüpften sie 

in Massen eilig her. 

Das Walroß und der Zimmermann 

gingen dahin am Strand 

und setzten sidi auf einen Stein, 

der just erreichbar stand, 

und all die kleinen Austerchen 

umringten sie gespannt.^ 



43 



„Nun plaudern wir", das Walroß sprach, 

und sdiaute sidi freundlidi um, 

„Von Sdiuhen — Schiffen — Siegellacke — 

von Kraut und Königtum, 

und ob ein Wildschwein Flügel hat, 

und wenn es sie hat, warum?" 

Die Austern baten: „Wartet doch 

mit dieser Plauderei — 

weil wir ganz außer Atem sind, 

und wären so gerne dabei!" 

„Sehr gerne," sprach der Zimmermann 

und zählte „eins, zwei, drei." 

„Ein Stückdien Brot", das Walroß sprach, 

„kam jetzt uns sehr zur Zeit, 

dazu ein wenig Essig auch, 

und Pfeffer, den man streut. 

Und dann, ihr lieben Austerchen, 

bin idi zum Mahl bereit." 

Die Austern wurden bleich und blau 

wie frisch polierter Stahl. 

„Was hören wir, was hören wir 

plötzlich von einem Mahl? 

Ihr — uns? Nadh solcher Freundlidikeit 

wäre dies eine Qual!" 

„Welch sdiöne Nacht!" das Walroß sprach, 

„ist nicht die Aussicht nett?" 

Der Zimmermann spradi: „Diese da 

ist ganz besonders fett; 

schneid mir noch eine Schnitte Brot 

mit deinem Bajonett." 



44 



Das Walroß sagte: „Eigentlich 

war das von uns nidit sdiön, 

wir schleppten sie so weit heraus 

und ließen so schnell sie geh*n." 

Der Zimmermann spradi: „Gib mir noch 

mehr Butter, bitte schön!" 

„Ich bin für euch von Mitleid voll", 

das weinende Walroß spricht 

und sud\t sich die größten Austern heraus, 

„daß mir das Herz fast bricht." 

Und es hält ein großes Taschentuch 

vor sein tränennaßes Gesicht. 

„Ach Austern," sprach der Zimmermann, 
„der Abend war wunderbar, 
ihr hattet Glück I Doch jetzt wird*s spät, 
jetzt gehen wir heim, nicht wahr?" 
Die Austern aber schv;iegen still. 
Weil keine mehr übrig war." 

„Am besten gefällt mir das Walroß," sagte Alice, 
„weil es die armen Austern doch ein bißchen be- 
dauert hat" 

„Aber es hat trotzdem mehr von ihnen gegessen, 
als der Zimmermann," sagte Dideldei. „Weißt du, es 
hat sicii das Tasciientuch vorgehalten, so daß der 
Zimmermann nidit sehen konnte, wieviel es nahm. 
Gegenteilig." 

„Das war abscheulich!" sagte Alice empört. „Dann 
gefällt mir der Zimmermann besser, weil er nicht so 
viel gegessen hat, wie das Walroß." 

„Er hat aber so viel gegessen, als er bekommen 
konnte!" sagte Dideldum. 

Das war nun eine schwierige Frage. 

45 



Nach einer Pause fing Alice an; „Dann waren sie 
beide sehr sdilechte Charaktere — " hier hielt sie 
beunruhigt inne, denn sie hörte im nahen Walde 
etwas, das ihr wie das Fauchen einer großen Dampf- 
maschine klang. Sie fürchtete, daß es ein wildes Tier 
sein könnte. 

„Gibt es in dieser Gegend Löwen oder Tiger?" 
fragte sie ängstlich. 

„Es ist nur der schwarze König, der da schnarcht," 
sagte Dideldei. 

„Komm und schau dir ihn an!" riefen die Brüder, 
nahmen Alice jeder bei einer Hand und führten sie 
vor den sdilafenden König. 

„Ist das nicht ein entzückendesBild?" fragte Dideldei. 

Alice konnte nicht aufriditig zustimmen. Der König 
hatte eine große Nachtmütze mit einer Quaste auf 
dem Kopf, lag wie eine Kugel zusammengerollt da 
und schnardite laut, schnarchte sich beinahe den Kopf 
ab, wie Dideldum bemerkte. 

„Ich fürchte, er wird sldi erkälten, wenn er da auf 
dem feuchten Gras liegt," sagte Alice, die ein sehr 
vernünftiges kleines Mädchen war. 

„Er träumt jetzt." sagte Dideldei. „Und was glaubst 
du wohl, wovon er träumt?" 

Alice sagte: „Niemand kann das erraten." 

„Nun, von dir!" rief Dideldei und klatschte trium- 
phierend in die Hände. „Wenn er aufhören würde, von 
dir zu träumen, was glaubst du, wo du dann wärst?" 

„Da wo ich jetzt bin, natürlich!" sagte Alice. 

„Oho, nein," sagte Dideldei verächtlich. „Gar nir- 
gends wärst du! Du bist nur eine seiner Traumgestalten." 

„Wenn dieser König da aufwachte," fügte Didel- 
dum hinzu, „dann würdest du einfach ausgehen, bums, 
wie eine Kerze." 

46 



„Oh, durchaus niditl" rief Alice entrüstet. „Und 
außerdem, wenn ich nur eine Traumgestalt bin, was 
sind dann Sie, möchte ich gern wissen?" 

„Ditto," sagte Dideldum. 

„Ditio, ditto," rief Dideldei. 

Er schrie das so laut, daß Alice sagte: „Pst! Sie 
werden ihn aufwedcen, wenn Sie so einen Lärm maciien." 

„Es hat keinen Sinn, wenn du davon redest, daß 
man ihn aufweckt," sagte Dideldum „da du dodi nur 
eine seiner Traumgestalten bist. Du weißt ganz gut, 
daß du nidit wirklich bist." 

„Ich bin wirklich," sagte Alice und fing zu weinen an. 

„Durch Weinen wirst du nicht ein bißdien wirk- 
lidier," bemerkte Dideldei. „Da gibt es gar nidits zu 
weinen." 

„Wenn ich nicht wirklidi wäre," sagte Alice und 
lachte mitten im Weinen, denn die Sache kam ihr 
sehr komisdi vor, „dann könnte idi dodi nicht weinen." 

„Idi hoffe, du bildest dir nicht ein, daß daswirklidie 
Tränen sind?" unterbradi Dideldum sie sehr ärgerlich. 

Ich weiß, daß sie Unsinn reden, dachte Alice; es 
ist dumm, darüber zu weinen. So wisciite sie sicii die 
Tränen ab und fuhr fori, so fröhlicii sie konnte: 
„jedenfalls wäre es gut, wenn ich aus dem Walde 
herauskäme, denn es wird sehr finster. Glauben Sie, 
daß es regnen wird?" 

Dideldum spannte einen großen Regensciiirm über 
sich und seinen Bruder auf und schaute hinein. „Idi 
glaube niciit," sagte er, „wenigstens nicht unter dem 
Sciiirm; gewiß nicht." 

„Aber draußen könnte es regnen." 

„Es könnte, wenn es Lust hätte," sagte DideldcL 
„Wir haben nichts dagegen, gegenteilig." 

„Egoisten," dachte Alice und wollte gerade gute 
Naciit sagen und sich empfehlen, als Dideldum unter 

47 



dem Regensdiirm hervorsprang und sie fest beim Hand- 
gelenk faßte. „Siehst du das?" sagte er mit einer 
Stimme, die vor Leidensdiaft bebte, und seine Augen 
wurden in einem Augenblick groß und gelb, während 
er mit zitternden Fingern auf einen kleinen weißen 
Gegenstand deutete, der unter einem Baum lag. 

„Das ist nur eine Klapper," sagte Alice nadi 
sorgfältiger Untersuchung des Gegenstandes — „nicht 
eine Klappersdilange," setzte sie eilig hinzu, weil sie 
meinte, daß er Angst habe. „Nur eine alte Kinder- 
klapper. Sie ist ganz zerbrodien." 

„Ich wußte es!" schrie Dideldum und stampfte wild 
mit den Füßen und raufte sich die Haare. „Natürlich 
ist sie zerbrochen!" 

Hier schaute er Dideldei an, der sidi sofort auf 
den Fußboden setzte und versudite, sidi unter dem 
Schirm zu verstecken. 

Alice legte die Hand auf seinen Arm und sagte 
beruhigend: „Sie sollten sich wegen einer alten 
Klapper nicht so aufregen." 

„Sie ist aber nidit alt!" schrie Dideldum in stei- 
gendem Zorn, „sie ist neu, ich habe sie erst gestern 
gekauft! Meine schöne neue Klapper!" und er 
brüllte geradezu. 

jetzt versuchte Dideldei, so gut er konnte, den 
Regenschirm zuzumadien und sich selbst mit einzu- 
sdiließen. Das sah so sonderbar aus, daß Alicens 
Aufmerksamkeit von seinem zornigen Bruder abgelenkt 
wurde. Dideldei bradite es nidit zustande und die 
Sache endete damit, daß er in den Regenschirm ein- 
gewidcelt umfiel, so daß nur sein Kopf herausschaute; 
und da lag er nun und machte den Mund und die 
großen Augen auf und zu. Er schaut einem Fisch zum 
Verwechseln ähnlich, dadite Alice. 

48 









4 


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1 w^^W 




5 


2k 



„Natürlich werden wir uns duellieren," sagte Didel- 
dum in etwas verächtlichem Ton. 

„Vermutlidi," sagte der andere Bruder mürrisch, 
während er aus dem Schirm herauskrodi. „Aber sie 
muß uns beim Anziehen helfen." 

Die beiden Brüder gingen Hand in Hand in den 
Wald hinein und kamen in einer Weile zurüde, die 
Arme mit allerlei Sachen beladen: mit Polstern, 
Leintüchern, Teppichen, Tischtüchern, Wolltüchern und 
Schürhaken. 

„Hoffentlich kannst du gut Nadeln stecicen und 
Schnüre binden?" erkundigte sich Dideldum. „Alle 
diese Dinge müssen irgendwie angelegt werden." 

Alice sagte später, sie habe niemals Leute soviel 
Geschiciiten machen sehen wie diese beiden. Wie 
sie herumsciiossen — und was sie alles anlegten — 
und wieviel Mühe sie ihr machten mit Binden von 
Schnüren und Zumachen von Knöpfen! „Sie werden 
wirklich aussehen, wie zwei Bündel alte Kleider, wenn 
sie fertig sind," sagte sie sich, während sie Dideldei 
einen Polster um den Hals band, um, wie er sagte, 
seinen Kopf vor dem Abgehauenwerden zu schützen. 

„Weißt du," sagte er sehr ernst, „das ist eine der 
gefährlichsten Sachen, die einem im Leben passieren 
können, daß einem der Kopf abgeschlagen wird." 
Alice hätte bald laut aufgelacht, aber es gelang ihr 
rechtzeitig, es in ein Hüsteln umzuwandeln, denn sie 
fürchtete, ihn zu beleidigen. 

„Schau ich sehr blaß aus?" fragte Dideldum, als 
er kam, um sich den Helm umbinden zu lassen. (Er 
nannte es einen Helm, obgleich es wahrhaftig mehr 
wie eine Bratpfanne aussah.) 

„Ein bißciien," sagte Alice sanft. 

„Gewöhnlich bin ich sehr mutig," fuhr er leise 
fort, „aber heute habe ich leider Kopfschmerzen." 

49 



„Und ich habe Zahnschmerzen/ sagte Dideldei, 
der die Bemerkung gehört hatte. „Mir ist viel schlechter 
als dir." 

„Dann sollten Sie sich heute eigentlich nicht 
duellieren," sagte Alice, die eine Gelegegenheit wahr- 
nahm, Frieden zu machen. 

„Wir müssen uns duellieren, aber ich bestehe nicht 
darauf, mich lange zu duellieren," sagte Dideldum. 
„Wie viel Uhr ist es jetzt?" 

Dideldei schaute auf seine Uhr und sagte : „Halb fünf." 

„Dann wollen wir uns bis sechs Uhr duellieren und 
nachher zu Abend essen," erklärte Dideldum. 

„Gut," sagte der andere ziemlich traurig, „und sie 
soll uns zusehen. Aber du darfst nicht zu nahe 
kommen," fügte er hinzu. „Gewöhnlich treffe ich alles, 
was ich sehen kann, wenn ich wirklich in Aufregung 
komme." 

„Und ich treffe alles, was in der Nähe ist," schrie 
Dideldum, „ob ich es sehen kann oder nicht." 

Alice lachte: „Sie müssen ziemlich viele Bäume 
treffen!" 

Dideldum schaute mit einem zufriedenen Lächeln 
um sich. „Ich glaube nicht, daß hier in der Runde 
noch ein Baum stehen wird, wenn wir fertig sind." 

„Und das alles um eine Klapper?" fragte Alice, 
die noch immer hoffte, das sie sich schämen würden, 
um eine solche Kleinigkeit zu kämpfen. 

„Ich hätte mir nicht soviel daraus gemacht," sagte 
Dideldum, „wenn es nicht eine neue gewesen wäre." 

Ich wollte, die Riesenkrähe käme, dadite Alice. 

„Wir haben nur ein Schwert," sagte Dideldum zu 
seinem Bruder. „Aber du kannst den Sdiirm haben, 
der ist eben so scharf. Wir müssen rasch beginnen, 
denn es wird so dunkel wie nur möglich." 

50 



^Nodi dunkler," sagte Dideldei. 

Es wurde so plötzlich dunkel, daß Alice dadite, 
ein Wetter müsse kommen: „Was für eine dicke 
sdiwarze Wolke das ist und wie schnell sie her- 
kommt! Ich glaube wahrhaftig, sie hat Flügel." 

„Es ist die Krähe," schrie Dideldum angstvoll. 

Die beiden Brüder fingen an zu laufen und waren 
im nächsten Augenblidi verschwunden. 

Alice lief ein Stück in den Wald hinein und blieb 
unter einem großen Baum stehen. Hier kann sie 
mich nicht erwisdien, dachte sie. Sie ist viel zu 
groß, um sidi zwischen den Bäumen durchzuzwängen. 
Aber wenn sie nur nicht so mit den Flügeln schlagen 
wollte. Sie macht einen ganzen Orkan im Wald. Da 
wird jemandem ein Tudi weggeblasen. 



4* 



51 



V. K a p i t c 1. 

Wolle und Wasser. 



Sie fing das Tudi auf und sah sidi nach dem 
Eigentümer um; im nächsten Augenblick kam die weiße 
Königin wild durch den Wald gelaufen. Sie hielt die 
Arme weit ausgebreitet, als ob sie fliegen wollte. 
Alice ging ihr mit dem Tuch entgegen. 

„Ich freue mich sehr, daß ich es aufgefangen habe", 
sagte Alice und half ihr das Tuch um die Schultern 
legen. 

Die weiße Königin sdiaute sie bloß an mit einem 
hilflosen, ängstlichen Blick an und wiederhohe flüsternd 
immer wieder irgendetwas, das wie „Butterbrot, Butter- 
brot", klang. Alice meinte, es würde überhaupt nicht zu 
einem Gespräch kommen, wenn sie nicht anfinge. 

So begann sie schüchtern: „Habe idi das Ver- 
gnügen, vor der weißen Königin zu stehen?" 

„Jawohl, wenn du es ein Vergnügen nennst, vor 
mir zu stehen, statt mir beim Ankleiden zu helfen,** 
sagte die Königin. „Schau nur, wie ich aussehe!" 

Alice lächelte. „Wenn Eure Majestät mir sagen 
wollen, was ich zu tun habe, dann will ich es machen, 
so gut idi kann." 

„Aber ich weiß es ja gar niciit!" stöhnte die arme 
Königin. „Ich versuciie ja schon seit zwei Stunden, 
micii anzukleiden!" 

Sie schien wirklicii Hilfe zu brauciien, denn sie 
sah furchtbar unordentlich aus. Alles saß schief an 
ihr, und sie war mit Stecknadeln besät. „Darf id\ Ihnen 
das Tuch gerade legen?" fragte Alice. 

„Ich weiß nicht, was mit dem Tucii los ist!" sagte 
die Königin melancholisch. „Icii glaube, es ist sciilecht 

52 



gelaunt. Idi habe es hier angesteckt und da angesteckt, 
aber es will sich nicht zufrieden geben!** 

„Es kann ja nicht gerade hängen, wenn Sie es auf 
einer Seite in die Höhe sted^en," sagte Alice und 
brachte das Tuch in Ordnung. „Und mein Gott, wie 
sieht Ihre Frisur aus?" 

„Die Bürste hat sich in das Haar verhängt,** sagte 
die Königin mit einem Seufzer; „und gestern habe ich 
den Kamm verloren.** 

Alice löste die Bürste sorgfältig aus dem Haar 
und bemühte sich, die Frisur in Ordnung zu bringen. 
„Nun also, jetzt sehen Sie viel besser aus!** sagte 
sie, nachdem sie die meisten Nadeln frisch gesteciit 
hatte. „Aber Sie sollten wirklich eineKammerzofe haben.** 

„Ich will dich gerne aufnehmen!** sagte die Königin. 
„Zwei Groschen die Woche und jeden zweiten Tag 
Marmelade.** 

Alice sagte lachend: „Ich mag nicht aufgenommen 
werden, und Marmelade habe ich nidit gerne.** 

„Es ist sehr gute Marmelade,** sagte die Königin. 

„Nun, ich mag jedenfalls heute keine.*' 

„Du könntest sie heute gar nicht kriegen, auch 
wenn du sie möditest,** sagte die Königin. „Die Regel 
ist, morgen Marmelade und gestern Marmelade, aber 
niemals heute Marmelade.** 

„Aber einmal muß es doch heute Marmelade geben,** 
wandte Alice ein. 

„Nein, niemals," sagte die Königin. „Es heißt: 
Marmelade jeden zweiten Tag, heute ist aber niemals 
der zweite Tag.*' 

„Ich verstehe das nicht!** sagte Alice. „Es ist 
furchtbar unverständlich.** 

„Das kommt davon, wenn man nach rückwärts 
lebt,** sagte die Königin freundlich; „das macht einen 
zuerst immer ein bißchen schwindlig ** 

53 



„Nach rückwärts lebt?" "wiederholte Alice sehr 
erstaunt. »Ich habe niemals so etwas gehört." 

„Aber es hat den großen Vorteil, daß das Ge- 
dächtnis nadi beiden Seiten arbeitet." 

„Das meinige arbeitet nur nach einer Seite," be- 
merkte Alice. „Ich kann midi nicht an Dinge erinnern, 
bevor sie geschehen sind." 

„Das ist ein sehr armseliges Gedächtnis, das nur 
nach rückwärts arbeitet," sagte die Königin. 

„An was für Dinge erinnern Sie sich am besten?" 
wagte Alice zu fragen. 

„Oh, an die Dinge, die übernächste Woche ge- 
schehen werden," antwortete die Königin leichthin. 
„Zum Beispiel jetzt," fuhr sie fort und klebte ein großes 
Stück Heftpflaster auf einen Finger. „Das ist der Bote 
des Königs. Er sitzt jetzt die Strafe ab; das Verhör 
beginnt erst nächsten Mittwoch und natürlich kommt 
das Verbrechen zu allerletzt." 

„Aber wenn er das Verbrechen gar nicht begeht?" 
fragte Alice. 

„Das wäre umso besser, niciit wahr?" sagte die 
Königin und band sich das Pflaster mit einem Stücicchen 
Band um den Finger. 

Das war nicht zu leugnen. „Natürlicii wäre das 
besser." sagte Alice. „Aber dann wäre es nicht riciitig, 
daß er bestraft worden ist." 

„Da hast du jedenfalls unrecht," sagte die Königin, 
„Bist du niemals bestraft worden?" 

„Nur für Fehler," sagte Alice. 

„Und du bist doch dadurcii besser geworden, so- 
viel ich weiß?" sagte die Königin triumphierend. 

„Ja, aber dann hatte ich die Dinge getan, für 
die ich bestraft wurde," sagte Alice, „und das ist der 
große Unterschied." 

54 



„Wenn du sie aber nidit getan hättest?" sagte 
die Königin, „dann wäre es noch besser gewesen, 
besser und besser und besser!" Ihre Stimme hob sich 
bei jedem „besser", bis endlich ein Kreischen herauskam. 

Alice fing gerade an zu sagen: „Da ist irgend 
ein Fehler — " da kreischte die Königin so laut, daß 
sie den Satz in der Mitte abbredien mußte. „Oh, oh, 
oh!" brüllte die Königin und schüttelte ihre Hand, 
als ob sie sie abschütteln wollte. „Mein Finger blutet, 
oh, oh, oh!" 

Ihr Geschrei klang dem Pfeifen einer Dampf- 
masdiine so ähnlidi, daß Alice sich beide Hände vor 
die Ohren halten mußte. „Was ist gesdiehen?" rief 
sie, sowie sie sich vernehmlich madien konnte. „Haben 
Sie sich in den Finger gestodien?" 

„Nodi nidit," sagte die Königin, „aber ich werde 
es gleich tun, oh, oh, oh!" 

„Wann werden Sie es denn tun?" fragte Alice 
und hatte große Lust, zu lachen. 

„Wenn ich mein Tuch wieder feststec^e," stöhnte 
die arme Königin. „Meine Vorstedmadel wird gleidi 
aufgehen, oh, oh, oh!" Während sie so wehklagte 
sprang die Vorstecknadel auf und die Königin packte 
sie heftig, um sie wieder zuzustechen. 

„Geben Sie adit!" rief Alice: „Sie halten sie ganz 
verkehrt." 

Dabei griff sie nach der Nadel, aber es war zu 
spät; die Nadel war schon abgeglitten, und die Königin 
hatte sidi in den Finger gestochen. 

„Davon kommt das Bluten, siehst du!" sagte die 
Königin lädielnd zu Alice. „Jetzt verstehst du, wie die 
Dinge hier geschehen.*' 

,. Aber warum sdireien Sie denn jetzt nicht?" fragte 
Alice und hob die Hände, um sich wieder die Ohren 
zuzuhalten. 



55 



„Ich habe sdion fertig geschrien," sagte die Königin. 
„Warum sollte ich wieder anfangen?" 

Es wurde jetzt hell. „Die Krähe muß schon weg- 
geflogen sein, denke ich," sagte Alice. „Das freut 
mich sehr. Es war vorhin so finster, als ob es Nadit 
würde." 

„Wenn ich mich doch nur auch freuen könnte!" 
sagte die Königin. „Ich kann mich nur niemals an 
die Regel erinnern. Du mußt sehr glücklich sein, wenn 
du in diesem Wald lebst und dich freuen kannst, so 
oft du willst." 

„Es ist nur so einsam hier," sagte Alice traurig. 
Bei dem Gedanken an ihre Einsamkeit liefen ihr zwei 
große Tränen über die Wangen. 

„O, nur nicht weinen!" rief die arme Königin und 
rang verzweifelt die Hände. „Bedenke, was du für ein 
großes Mädchen bist! Bedenke, wie weit du her- 
gekommen bist! Bedenke, wieviel Uhr es ist! Bedenke, 
was du willst, nur weine nicht!" 

Darüber mußte Alice wieder lachen, mitten im 
Weinen. 

„Hält es Sie vom Weinen zurück, wenn Sie etwas 
bedenken?" fragte sie. 

„Das ist die Regel," sagte die Königin sehr ent- 
schieden. „Niemand kann zwei Sachen auf einmal tun. 
Bedenken wir zunächst dein Alter. Wie alt bist du?" 

„Ich bin nur gerade sieben und ein halbes Jahr." 

„Du brauciist nicht zu sagen: schnurgerade," be- 
merkte die Königin. „Ich glaube dir auch ohne das. 
jetzt werde icii dir etwas zu glauben geben. Ich bin 
hundert und ein Jahr, fünf Monate und einen Tag alt." 

„Das kann icii nicht glauben," sagte Alice. 

„Nicht?" fragte die Königin mitleidig. „Probier es 
noch einmal; atme tief und sciiließe die Augen." 

56 



Alice ladite. „Probieren nützt nidits. Unmögliche 
Dinge kann man nidit glauben." 

„Du hast es wahrsdieinlidi niemals geübt," sagte 
die Königin. „In deinem Alter habe idk es jeden Tag 
eine halbe Stunde lang getan. Mandimal hatte ich 
schon vor dem Frühstück sechs unmögliche Dinge ge- 
glaubt. Da fliegt mein Tuch wieder davon!" Die Vor- 
stecicnadel war wieder aufgegangen und ein plötzlicher 
Windstoß blies der Königin das Tuch über ein Bäch- 
lein hinüber. Die Königin breitete die Arme aus 
und flog hinterher, und diesmal konnte sie es selbst 
einfangen. „Ich habe es!" rief sie triumphierend, „jetzt 
sollst du sehen, wie ich es mir selbst wieder anstecice, 
ganz allein!" 

„Dann ist Ihr Finger hoffentlich wieder gut," sagte 
Alice sehr artig, als sie das Bädilein hinter der Königin 
übersetzte. 

„Oh, danke sehr," sagte sie und hob die Stimme 
wieder zu einem Kreischen. „Danke sehr, säähr, säähr!" 
Die letzten Worte endeten in einem langen Blöken, 
das ganz wie das Blöken eines Schafes klang, so 
daß Alice beinahe erschrak. 

Sie sah die Königin an und diese schien sich 
plötzlich ganz in Wolle gekleidet zu haben. Alice 
rieb sich die Augen und sah wieder hin. Sie begriff 
durchaus nicht, was geschehen war. War sie in einem 
Kaufladen und war das wirklich — war das wirklich 
ein Schaf, das auf der anderen Seite des Ladentisches 
saß? Soviel sie sich auch die Augen rieb, sie konnte 
nichts daran ändern: sie stand in einem kleinen dunklen 
Laden und stützte die Ellenbogen auf den Ladentisch; 
ihr gegenüber aber saß in einem Lehnstuhl ein altes 
Schaf und strickte. Von Zeit zu Zeit unterbrach es sidi 
dabei, um sie durch ein paar große Brillen anzusehen. 

57 



„Was wünschst du zu kaufen?" fragte das Sdiaf 
sdiließlidi und schaute einen Augenblick von seiner 
Strickerei auf. 

„Ich weiß es noch nicht recht," sagte Alice sehr 
sanft. „Ich möchte mir gern zuerst alles ringsherum 
ansehen, wenn ich darf." 

„Du kannst nach vorne und nach beiden Seiten 
sehen, wenn du willst, aber du kannst nicht rings- 
herum sehen, außer, wenn du auf der Rüdeseite deines 
Kopfes Augen hast." 

Da dies zufällig nicht der Fall war, begnügte sich 
Alice damit, sidi umzudrehen und die Schrankfächer 
der Reihe nadi anzusehen. 

Der Laden sdiien mit merkwürdigen Dingen aller 
Art angefüllt zu sein, aber das komischste war das: 
so oft sie ein Fach anschaute, um seinen Inhalt zu 
betrachten, war just dieses Fach ganz leer, während 
die anderen ringsherum ganz voll erschienen. 

„Die Dinge fliegen hier so herum," klagte sie, 
nachdem sie minutenlang vergeblich ein großes helles 
Etwas verfolgt hatte, das bald wie eine Puppe, bald 
wie ein Nähkasten aussah und immer gerade über 
dem Fach stand, das sie anschaute. „Und dieses 
Ding da macht es am ärgsten — aber ich weiß schon, 
was ich tuel" — Es kam ihr plötzlich ein Gedanke. 
„Ich will es bis ins oberste Fach hinauf verfolgen; 
durch den Dachbalken wird es doch nicht so leicht 
fliegen können." 

Aber auch dieser Plan schlug fehl, denn das Ding 
ging seelenruhig durch den Balken, als ob es daran 
gewöhnt wäre. 

„Bist du ein Kind oder bist du ein Kreisel?" 
fragte das Schaf und nahm noch ein paar Nadeln in 
die Hand. „Du wirst mich schwindlig machen, wenn 
du dich noch lange so herumdrehst." 

58 



Es strickte jetzt mit vierzehn paar Nadeln auf 
einmal, und Alice schaute ihm sehr erstaunt zu. 

„Wie kann es nur mit sovielen Nadeln auf einmal 
stricken?" dachte sie verwirrt. „Es sieht beinahe aus 
wie ein Stachelschwein." 

„Kannst du rudern ?" fragte das Schaf und reichte 
ihr ein paar Stricknadeln. 

„Ja, ein bißchen, aber nicht auf dem trockenen 
Lande und nicht mit Stricknadeln," fing Alice an. 
Da verwandelten sich die Stricknadeln in ihrer Hand 
in Ruder und sie sah, daß sie in einem kleinen Boot 
saß und zwischen Ufern dahinglitt. Da mußte sie sich 
nach Kräften in die Ruder legen. 

„Feder!" rief das Schaf und nahm wieder ein paar 
Nadeln dazu. 

Dieser Ausruf schien keiner Antwort zu bedürfen. 
Alice sagte also nichts und ruderte weiter. Das Wasser 
war sehr sonderbar; jeden Augenblick blieb eins der 
Ruder stecken und wollte gar nicht herausgehen. 

„Feder! Feder!" rief das Schaf wieder und nahm 
noch Nadeln dazu. „Du wirst gleich einen Krebs 
fangen." 

Einen niedlichen kleinen Krebs? Das wäre mir 
ganz recht, dachte Alice. 

„Hast du mich nicht , Feder* sagen hören?" rief das 
Schaf und nahm gleich einen ganzen Bund Nadeln 
dazu. 

„Natürlich, sehr oft und sehr laut," sagte Alice. 
„Bitte, wo sind die Krebse?" 

„Im Wasser natürlich," sagte das Schaf und steckte 
sich ein paar Nadeln ins Haar, denn seine Hände 
waren schon ganz voll. „Feder, sage ich!" 

„Warum sagen Sie denn nur so oft ,Feder*?" fragte 
Alice endlich ärgerlich. „Ich bin doch kein Vogel!" 

59 



„Oh doch!" sagte das Schaf, „du bist ein 
Gänschen." 

Alice war beleidigt und so schwiegen sie eineWeile. 
Das Boot glitt langsam weiter, manchmal zwischen 
Schilfrohr hindurch, so daß die Ruder noch fester im 
Wasser stecken blieben als sonst; manchmal unter 
Bäumen hin; aber immer dehnten sich die gleichen 
steilen Flußufer neben ihnen aus. 

„Oh, bitte! dort sind so schöne Binsen!" rief 
Alice plötzlich ganz entzückt. 

„Darum brauchst du mich nicht zu bitten," sagte 
das Schaf. „Ich habe sie nicht hingegeben und werde 
sie auch nicht wegnehmen." 

„Nein, aber ich habe gedacht, wir könnten ein 
wenig anhalten und welches pflücken," bat Alice, 
„wenn es Ihnen nichts macht, das Boot ein bißchen 
stehen zu lassen." 

„Wie soll ich es stehen lassen? Wenn du auf- 
hörst zu rudern, wird es von selbst stehen bleiben." 

So ließen sie das Boot eine Strecke gleiten, bis 
es sanft in die wiegenden Binsen hineinfuhr. Dann 
rollte Alice ihre Ärmel sorgfältig auf und ihre Arme 
gingen tief ins Wasser, um die Binsen recht tief unten 
anzufaßen, bevor sie sie pflückte. Für eine Zeit vergaß 
Alice das Schaf und das Strid^en, als sie sich über 
den Bootrand neigte und die Enden ihres wirren 
Haares ins Wasser tauchten. Mit glänzenden Augen 
fing sie ein Büschel nach den andern von den 
geliebten Binsen. 

„Ich hoffe, das Boot wird nicht umschlagen," sagte 
sie zu sich selbst. „Oh, wie schön sind diese dort: 
aber ich kann sie nicht erreichen." Das war wirklich 
ärgerlich (beinahe als ob es ihr zum Trotz geschehe). 
Obwohl sie viele schöne Binsen pflückte, sah sie, 

60 



wenn das Boot weiterglitt, immer noch schönere, die 
sie nicht erreichen konnte. 

„Die schönsten sind immer unerreichbar," sagte 
sie endlich mit einem Seufzer über den Eigensinn 
der Binsen, die so weit entfernt wuchsen; und mit 
tropfnassen Haaren und Händen kroch sie auf ihren 
Platz zurück und fing an, ihre Schätze zu ordnen. 

Was lag ihr daran, daß die Binsen schon anfingen zu 
welken, und ihre Schönheit zu verlieren vom Augen- 
blidc an, da sie sie pflüdcte! Sogar wirkliche Binsen 
bleiben nur kurze Zeit frisch, und diese waren ja 
Traumbinsen und schmolzen beinahe wie Schnee in 
Haufen zu ihren Füßen — aber Alice merkte es kaum, 
soviel andere sonderbare Dinge gab es zu sehen. 

Sie waren noch nicht viel weiter gekommen, da 
saß eines der Ruder wieder im Wasser fest und wollte 
sich nicht heraus ziehen lassen (so wenigstens er- 
klärte es Alice nachher) und die Folge davon war, 
daß der Griff des Ruders sie unter dem Kinn faßte und 
sie trotz Gegenwehr und Geschrei vom Sitz hob und 
mitten unter den Binsenhaufen fegte. 

Sie tat sich aber gar nicht weh und war bald 
wieder oben, und das Schaf strickte ruhig weiter, als 
ob nichts geschehen wäre. 

„Da hast du einen netten Krebs gefangen," sagte 
es endlich, als Alice wieder auf ihrem Platz war, sehr 
froh, sicher im Boot zu sitzen. 

„Wirklich? Ich habe ihn nicht gesehen," sagte 
Alice und schaute vorsiditig über den Rand des 
Bootes ins dunkle Wasser, da sie glaubte, daß er 
wieder hinein gefallen wäre. „Ich möchte sehr gerne 
einen kleinen Krebs mit nach Hause nehmen." 

Aber das Schaf lachte verächtlich und stridcte weiter. 

„Gibt es hier viele Krebse?" fragte Alice. 

„Krebse und alle möglichen anderen Dinge," sagte 

61 



das Schaf, „sehr viel Auswahl. Aber du mußt dich 
nun entscheiden. Was willst du kaufen?" 

„Kaufen?" echote Alice, halb erstaunt, halb er- 
schreckt, denn das Ruder, das Boot und der Fluß 
waren alle in einem Augenblick verschwunden und sie 
war schon wieder in dem dunklen kleinen Laden. 
„Ich möchte gern ein Ei kaufen, bitte," sagte sie 
endlich schüchtern. „Was kosten sie?" 

„Eins kostet zwei Groschen, zwei kosten einen 
Groschen," antwortete das Schaf. 

„Zwei sind also billiger als eins?" fragte AHce 
überrascht und nahm ihre Börse heraus. 

„Aber du mußt beide essen, wenn du zwei kaufst," 
sagte das Schaf. 

„Dann will ich lieber nur eins haben, bitte!" sagte 
Alice und legte das Geld auf den Ladenüsch nieder. 
Sie dachte bei sich: „Vielleicht sind sie nicht gut." 

Das Schaf nahm das Geld und legte es in eine 
Schachtel; dann sagte es: „Ich gebe den Leuten die 
Sachen niemals in die Hand, das würde sich nicht 
schicken; du mußt es dir selbst nehmen." Dabei ging 
€s an das andere Ende des Ladens und setzte das 
Ei aufrecht auf ein Schrankfach. 

„Warum würde sich das nicht schicken?" dachte 
Alice und tappte sich zwischen den Tischen und 
Stühlen hindurch, denn der Laden war sehr dunkel. 

„Das Ei scheint immer weiter wegzugehen, je näher 
ich hinkomme. Ist denn das ein Sessel? Er hat doch 
Zweige? Wie komisch, daß hier Bäume wachsen! Und 
hier ist wirklich ein Bach! Das ist der sonderbarste 
Laden, den ich je gesehen habe!" — — — — 

So ging sie weiter und wunderte sich bei jedem 
Schritt mehr, daß alles sich in einen Baum verwan- 
delte, in dem Augenblick, da sie darauf zuging. Sie 
erwartete, daß das Ei das gleiche tun würde. 

62 



VI. K a p i t e 1. 

Plumpsti Bumst i. 



Das Ei wurde aber immer größer, und als sie nur 
mehr ein paar Meter weit von ihm entfernt stand, sah 
sie, daß es Augen und eine Nase und einen Mund 
hatte. Und als sie ganz nahe davor stand, merkte sie 
deutlich, daß es Plumpsti Bumsti selber war. „Es kann 
niemand anderer sein," sagte sie zu sich selbst. „Ich 
bin dessen so sicher, als ob sein Name auf seinem 
Gesicht geschrieben stünde." 

Er hätte auf diesem großen Gesicht leicht hundert- 
mal aufgeschrieben werden können. Plumpsti Bumsti 
saß mit gekreuzten Beinen wie ein Türke am Rande 
einer hohen Mauer — und die war so schmal, daß 
Alice nicht begriff, wie er sich im Gleichgewicht er- 
halten konnte. Da seine Augen immer in die entgegen- 
gesetzte Richtung schauten und er nicht die geringste 
Notiz von ihr nahm, glaubte sie schließlich, daß er 
nur eine ausgestopfte Figur wäre. 

„Und wie genau er einem Ei gleichtl" sagte sie laut 
und hielt ihre Hand bereit, ihn aufzufangen, denn sie 
erwartete jeden Augenblick, daß er herunterfallen würde, 

„Das ist sehr ärgerlich," sagte Plumpsti Bumsti 
nach langem Stillschweigen und schaute von Alice 
weg, „wenn jemand einen ein Ei nennt, wahrhaftig." 

„Ich sagte nur, daß Sie einem Ei gleichen, mein 
Herr," erklärte Alice sanft, „und manche Eier sind 
sehr hübsch." fügte sie hinzu. Sie hoffte dadurch ihre 
Bemerkung in eine Art Kompliment zu verwandeln. 

„Manche Leute," sagte Plumpsti Bumsti, und 
schaute wie immer von ihr weg, „haben nicht mehr 
Verstand wie ein Säugling." 

63 



Alice wußte nicht, was sie dazu sagen sollte; sie 
fühlte sich gar nicht getroffen, denn er sagte niemals 
etwas zu ihr; seine letzte Bemerkung war sogar offenbar 
an einen Baum gerichtet. So stand sie und murmelte 
leise den Kinderreim vor sich hin: 

„Plumpsti Bumsti saß auf einem Wall, 
Plumpsti Bumsti tat einen großen Fall, 
Alle Mannen des Königs und alle Reiter des Lands 
Machen Plumpsti Bumsti nimmer wieder ganz." 

„Schwatz nicht so mit dir selber," sagte Plumpsti 
Bumsti und schaute sie zum erstenmal an. „Sag mir 
lieber deinen Namen und Beruf." 

„Mein Name ist Alice, aber — " 

„Das ist ein recht dummer Name," unterbrach 
Plumpsti Bumsti ungeduldig. „Was bedeutet er?" 

„Muß denn ein Name etwas bedeuten?" fragte 
Alice zweifelnd. 

„Natürlich," sagte Plumpsti Bumsti und lachte 
kurz auf. „Mein Name bedeutet meine Gestalt — und 
es ist eine sehr schöne, gute Gestalt. Mit deinem 
Namen könntest du beinahe jede Gestalt haben." 

„Warum sitzen Sie hier draußen ganz allein?" 
fragte Alice, denn sie wollte nicht streiten. 

„Nun, weil niemand bei mir isti" rief Plumpsti 
Bumsti. „Hast du geglaubt, ich würde darauf keine 
Antwort wissen? Frag etwas anderes!" 

„Glauben Sie nicht, daß Sie da unten auf dem 
Fußboden sicherer wären?" fuhr Alice fort, durchaus 
nicht in der Absicht, ihm Rätselfragen zu stellen, 
sondern nur, weil sie in ihrer Gutmütigkeit um das 
sonderbare Wesen besorgt war. „Diese Mauer ist 
gar so schmal." 

„Was für ungeheuer leichte Fragen du aufgibst!** 
gröhlte Plumpsti Bumsti. „Natürlich glaube ich das 

64 



nicht. Wenn ich jemals herunterfiele — ich werde 
nicht fallen — aber wenn ich fiele," hier warf er 
die Lippen auf und schaute so großartig und feierlich 
drein, daß Alice beinahe laut aufgelacht hätte. „Wenn 
ich wirklich fiele, — " fuhr er fort, „dann hat mir der 
König versprochen — ah, du kannst blaß werden, 
wenn du willst! Du hast dir nicht gedacht, daß ich das 
sagen werde, nicht wahr? Der König hat mir mit 
seinem eigenen Munde versprochen, — daß — daß" 

„er alle seine Reiter und Mannen schidcen wird," 
unterbrach Alice ihn etwas unvorsichtig. 

„Das ist unerhört!" schrie Plumpsti Bumsii in 
plötzlich ausbrechender Wut. „Du hast an Türen ge- 
lauscht — und hinter Bäumen — und durch Rauch- 
fänge — sonst könntest du das nicht wissen." 

„Oh nein, durchaus nicht," sagte Alice sehr sanft, 
„es steht in einem Buch." 

„Ach dann! In einem Buch kann man solche 
Sachen schreiben," sagte Plumpsti Bumsti ruhiger, 
„ihr nennt das dann eine Weltgeschichte. Nun schau 
mich gut an: ich bin der, der mit einem König ge- 
sprochen hat. Das bin ich! kann sein, daß du nie- 
mals wieder so einen sehen wirst; und um dir zu 
zeigen, daß ich nicht stolz bin, erlaube ich dir, mir 
die Hand zu schütteln." Er grinste von einem Ohr 
zum anderen, als er sich vorbeugte (wobei er um 
ein Haar von der Mauer gefallen wäre) und Alice 
seine Hand hinstreckte. Sie beobachtete ihn ängst- 
lich, während sie seine Hand faßte. „Wenn er nur 
ein bischen mehr lächelt, müssen sich die Enden 
seines Mundes rückwärts treffen," dachte sie „und 
dann weiß ich nicht, was mit seinem Kopf geschieht. 
Ich fürchte, er fällt ab." 

„Ja, alle seine Reiter und alle seine Mannen," fuhr 
Plumpsti Bumsti fort. „Sie würden mich in einem 

5 '65 



Augenblick aufheben, jawohl! Aber dieses Gespräch geht 
ein wenig zu schnell vor sich. Wir wollen auf die 
vorletzte Bemerkung zurückkommen." 

„Ich fürchte, ich kann mich an die nicht ganz genau 
erinnern," sagte Alice sehr höflich. 

„In diesem Falle können wir ja frisch anfangen," 
sagte Plumpsti Bumsii, „und die Reihe ist an mir, einen 
Gegenstand zu wählen — " (Er spricht beinahe so 
darüber, als ob das ein Gesellschaftsspiel wäre, 
dachte Alice.) „So, hier ist also eine Frage an dich. 
Wie alt hast du gesagt, daß du bist?" 

Alice stellte eine kurze Berechnung an und sagte : 
„Sieben Jahre und sechs Monate." 

„Falsch!" rief Plumpsti Bumsti triumphierend aus. 
„Du hast nichts dergleichen gesagt!" 

„Ich dachte, Sie meinen, wie alt ich bin ?" erklärte Alice. 

„Wenn ich das gemeint hätte, dann hätte ich das 
gesagt!" erwiderte Plumpsti Bumsti. 

Da Alice nicht wieder streiten wollte, so sagte 
sie nichts. 

„Sieben Jahre und sechs Monate," wiederholte 
Plumpsti Bumpsti nachdenklich. „Das ist ein sehr 
ungeschicktes Alter. Wenn du meinen Rat eingeholt 
hättest, dann hätte ich dir gesagt: ,Werde nicht so 
alt, höre mit sieben auf — aber jetzt ist es zu spät'." 

„Ich hole niemals Rat ein über das Älterwerden," 
sagte Alice ärgerlich. 

„Bist du zu stolz dazu?" fragte der andere. 

Alice war über diese Zumutung noch ärgerlicher. 

„Ich meine," sagte sie, „daß man gegen das Älter- 
werden nichts tun kann." 

„Man vielleicht nicht," sagte Plumpsti Bumsti. 
„Du bist aber doch kein Man, sondern ein Mädchen. 
Wenn du es nur richtig versucht hättest, hättest da 
vielleicht mit sieben Jahren stehen bleiben können." 

66 



„Was für einen schönen Gürtel Sie anhaben," be- 
merkte Alice plötzlich (sie dachte, sie hätten schon 
genug über das Alter gesprochen und wenn man 
wirklich abwechselnd Gegenstände wählte, dann war 
die Reihe jetzt an ihr), „oder eigentlich, ich hätte 
sagen sollen, eine schöne Krawatte. Nein, ich meine 
doch, es ist ein Gürtel. Ich bitte um Verzeihung!" 
fügte sie in großer Verlegenheit hinzu, dennPlumpsti 
Bumsti schaute sehr beleidigt drein und sie fing an 
zu wünschen, daß sie einen anderen Gegenstand ge- 
wählt hätte. Wenn ich nur wüßte, dachte sie bei 
sich, wo sein Hals und wo seine Taille ist! 

Plumpsti Bumsti war offenbar sehr ärgerlich, ob- 
wohl er ein paar Minuten lang nichts sagte. Als er 
wieder sprach, war es mit einem tiefen Gröhlen. 

„Es ist sehr verdrießlich," sagte er endlich, „wenn 
jemand eine Krawatte nicht von einem Gürtel unter- 
scheiden kann." 

„Ich weiß, daß es sehr dumm von mir ist," sagte 
Alice in einem so demütigen Ton, daß Plumpsti 
Bumsti versöhnt war. 

„Es ist eine Krawatte, mein Kind, und eine sehr 
schöne, wie du ganz richtig sagtest. Es ist ein Ge- 
schenk vom weißen König und der weißen Königin, 
weißt du!" 

„Wirklich?" sagte Alice sehr vergnügt darüber, 
daß sie endlich ein gutes Gesprächsthema gefunden 
hatte. 

„Ich bekam sie," fuhr Plumpsti Bumsti gedanken- 
voll fort, schlug ein Bein übers andere und schlang 
die Hände um sein Knie. „Ich bekam sie — als 
Ungeburtstagsgeschenk." 

„Wie, bitte?" fragte Alice erstaunt. 

„Nun so," sagte Plumpsti Bumsti und machte die 
Gebärde des Überreichens. 

67 



„Ich meine, was ist ein Ungeburtstagsgeschenk ?" 

„Natürlich ein Geschenk, daß du bekommst, wenn 
du nicht Geburtstag hast." 

Alice dachte ein wenig nach. „Mir .sind Geburts- 
tagsgeschenke lieber," sagte sie endlich. 

„Du weißt nicht, was du redest]" rief Plumpsii 
Bumpsti. „Wieviel Tage hat das Jahr?" 
„365," sagte Alice. 

„Und wieviel Geburtstage hast du?" 

„Einen." 

„Und wenn du eins von 365 abziehst, was bleibt 
dann?** 

„364 natürlich." 

Plumpsti Bumsti schaute zweifelhaft drein. „Ich 
möchte das lieber schriftlich gerechnet haben," sagte 
er. Alice mußte lachen, als sie ihr Notizbuch heraus- 
nahm und ihm die Subtraktion vormachte. 

365 
1 



364 



Plumpsti Bumsti nahm das Buch und betrachtete 
es aufmerksam. „Das scheint richtig gerechnet zu 
sein — " fing er an. 

„Sie halten es ja verkehrt," unterbrach Alice. 

„Natürlich," sagte Plumpsti Bumsti vergnügt, als 
sie es ihm umdrehte. „Ich habe mir gleich gedacht, 
daß es ein bißchen sonderbar aussieht. Wie gesagt, 
es scheint richtig gemacht zu sein, obwohl ich jetzt 
keine Zeit habe, es genau durchzusehen. — Und es 
zeigt, daß es dreihunderlvierundsechzig Tage gibt, an 
denen du Ungeburtstagsgeschenke bekommen kannst." 

„Natürlich," sagte Alice. 

„Und nur einen für Geburtstagsgeschenke. 
Das ist ein Ruhm für dich." 



68 



„Ich weiß nicht, was Sic unter ,Ruhm' verstehen," 
sagte Alice. 

Plumpsti Bumsti lächelte geringschätzig. 

„Natürlich weißt du das nicht, solange ich es dir 
nicht gesagt habe. Ich meinte, jetzt bist du geschlagen." 

„Aber ,Ruhm* bedeutet doch nicht, daß man ge- 
schlagen ist." wendete Alice ein. 

„Wenn ich ein Wort gebrauche," sagte Plumpsti 
Bumsti ziemlich höhnisch, „dann bedeutet es gerade 
das, was ich es bedeuten lassen will — nicht mehr 
und nicht weniger." 

„Die Frage ist nur," wendete Alice ein, „ob Sie 
Wörter so viele verschiedene Dinge bedeuten lassen 
könne n." 

„Die Frage ist nur," erwiderte Plumpsti Bumsti, 
„wer der Herr ist — nur das." 

Alice war viel zu erstaunt, um etwas zu sagen; 
so begann Plumpsti Bumsti nach einer Weile wieder: 
„Manche Wörter sind sehr eigensinnig — besonders 
Zeitwörter. Sie sind die stolzesten. Mit Eigenschafts- 
wörtern kann man alles machen, mit Zeitwörtern nicht. 
Ich kann aber mit der ganzen Gesellschaft fertig 
werden; Undurchdringlichkeit! das sage ich!" 

„Wollen Sie mir nicht sagen, bitte, was das be- 
deutet?" fragte Alice. 

„Jetzt sprichst du wie ein vernünftiges Kind," sagte 
Plumpsti Bumsti und sah sehr befriedigt aus. 

„Unter ,Undurchdringlichkeit' verstehe ich, daß wir 
über die Sache genug gesprochen haben und daß du 
jetzt lieber sagen solltest, was du vorhast. Denn 
ich glaube, du wirst ja nicht dein ganzes übriges 
Leben lang hier stehen bleiben wollen!" 

„Eine solche Menge kann man einem einzigen 
W^ort zu bedeuten geben?" fragte Alice nachdenklich. 

69 



„Wenn ich einem Wort soviel Arbeit aufbürde," 
sagte Plumpsti Bumsti, „dann zahle ich ihm immer 
extra dafür." 

„Aha," sagte Alice. Sie war viel zu verwirrt, um 
etwas anderes zu sagen. 

„Ja, du sollst nur sehen, wie sie sich Samstag 
Abend um mich drängen," fuhr Plumpsti Bumsti fort 
und legte den Kopf von einer Seite auf die andere, 
„um ihren Wochenlohn zu kriegen." 

(Alice wagte nicht, ihn zu fragen, womit er sie 
bezahle; so kann ich es dir, lieber Leser, auch nicht 
mitteilen.) 

„Sie scheinen sehr tüchtig im Erklären von Worten 
zu sein, mein Herr," sagte Alice, „würden Sie so 
freundlich sein, mir zu erklären, was das Gedicht 
,]abberwock' bedeutet?" 

„Laß mich hören," sagte Plumpsti Bumsti, „ich 
kann alle Gedichte erklären, die jemals erfunden 
worden sind — und eine ganze Menge, die noch 
nicht erfunden worden sind." 

Das klang sehr hoffnungsvoll, also sagte Alice 
den ersten Vers auf: 

„'s war brühig und die schlinken Toven 
gaubten und scheierten um den Sasen: 
Ganz mimsig waren die Borogoven 
und die fromden Rathen nasen." 

„Das ist genug für den Anfang," unterbrach Plumpsti 
Bumsti, „da sind schon eine Menge schwierige Worte 
drin. ,Brühig' bedeutet vier Uhr Nachmittag — näm- 
lich die Zeit, wenn man den Tee aufbrüht." 

„Das paßt sehr. gut," sagte Alice, „und ,schlink'?" 
„Schlink bedeutet schlank und flink. Weißt du, 
das ist wie ein Handkoffer, zwei Bedeutungen in ein 
Wort gepackt." 

70 



„Ach, so ist das!** bemerkte Alice nachdenklich, 
„und was sind ,Toven'?" 

„Toven sind ähnlidi wie Dachse — und ähnlich wie 
Eidechsen — und ähnlidi wie Korkzieher.** 

„Das müssen sehr sonderbar aussehende Wesen 
sein." 

„Sehr sonderbar," sagte Plumpsti Bumsti, „sie 
bauen ihre Nester unter Sonnenuhren und nähren 
sidi nur von Käse." 

„Und was heißt , Gauben und scheiern'?" 

„Gauben heißt ringsherum gehen, wie ein Sdiraub- 
stock, scJieiern heißt Lödier scheuern, wie ein Bohrer." 

„Und der ,Sasen' ist wahrscheinlidi der Rasenfledi 
um die Sonnenuhr?" fragte Alice, überrascfit von 
ihrem eigenen Sdiarfsinn. 

„Natürlidi. Und ,mimsig' bedeutet flimmrig und 
zimperlich. (Da hast du noch einen Handkoffer.) Und 
,Borogoven* sind magere, schäbige Vögel, denen die 
Federn ringsherum herausstehen — so etwas, wie 
lebendige Flederwische." 

„Und dann die ,fromden Rathen'?" fragte Alice. 
„Verzeihen Sie, daß idi Ihnen soviel Mühe madie." 

„Nun, eine ,Rathe* ist eine Art grünes Schwein; 
was ,fromd' heißt, weiß idi nicht sidier. Vielleidit ist 
es eine Abkürzung für fremd und weit hergekommen." 

„Und was heißt ,nasen'?" 

„Nasen ist ein Geräusch zwisciien Bellen und 
Pfeifen, mit einer Art von Nießen in der Mitte. Du 
wirst dieses Geräusch vielleicht in dem Walde dort 
hören — und wenn du es einmal gehört hast, wirst du 
ganz genug haben. Wer hat dir denn all das sdiwierige 
Zeug vorgesagt?" 

„Idi habe es in einem Budie gelesen. Aber jemand 
hat mir ein viel leichteres Gedicht aufgesagt. Idi 
glaube, es war Dideldei." 

71 



„Was Gedidite anlangt," sagte Plumpsti Bumsti 
und streckte eine seiner großen Hände aus, „idi kann 
so gut wie andere Leute Gedidite aufsagen, wenn es 
darauf ankommt." 

„Oh, es kommt nicht darauf an," sagte Alice 
schnell; sie hoffte, ihn zurückzuhalten. 

„Das Stück, das ich dir aufsagen will," fuhr er 
unbekümmert fort, „ist ausschließlich zu deiner Unter- 
haltung geschrieben worden..." 

Alice fühlte, daß sie in diesem Falle wirklidi zu- 
hören müsse. So setzte sie sidi nieder und sagte 
ziemlidi traurig: „Also bitte!" 

„„Zur Winterszeit bei Schnee und Eis 
sing ich dies Lied auf dein Geheiß — "" 

„Nur sing idi es nicht," fügte er erklärend hinzu. 

„Das sehe idi," sagte Alice. 

„Wenn du sehen kannst, ob ich singe oder nidit, 
dann hast du sdiärfere Augen als die meisten anderen 
Leute," sprach Plumpsti Bumsti streng. 

Alice schwieg still. 

„„Im Frühling, wenn die Knospen sprießen, 
versuch ich, es dir aufzuschließen."" 

„Besten Dank," sagte Alice. 

„„Im Sommer, wenn die Tage lang, 
vielleicht verstehst du den Gesang. 
Im Herbst, wenn Blattwerk fällt zuhauf, 
nimm Tinte und Feder und schreib es auf."" 

„Ja, wenn ich es mir solange merken kann," wandte 
Alice ein. 

„Du braudist nidit immer Zwischenbemerkungen 
zu machen," sagte Plumpsti Bumsti. „Sie haben 
keinen Sinn und bringen midi aus dem Text." 

72 



„„Dem Fisdi idi Bolschaft senden ließ, 
ich sagle ihm: „Ich wünsche dies." 

Die kleinen Fische Stück für Stück 
schickten die Antwort mir zurüde. 

Als Antwort wurde mir zu teil: 

„Mein Herr, wir können dies nidit, weil..."" 

„Idi verstehe leider nicht ganz," sagte Alice. 
„Später wird es leiditer," tröstete sie Plumpsti 
Bumsti. 

„„Idi sdiickte wieder hin: Ihr müßt 

mir doch gehordien — daß Ihr's wißt!"" 

„„Sie sagten mit grinsendem Gesicht: 
„Du bist heut sdilediter Laune, nicht?" 

Ich sdiickte wieder und neuerlidi, 
allein sie hörten nicht auf mich. 

Idi nahm einen Kochtopf, neu und groß, 
der eignete sich ganz famos. 

Mein Herz zersprang fast vor Geklopf, 
als ich mit Wasser füllte den Topf. 

Da kam zu mir eine Hilfsperson: 
„Die kleinen Fisdie schlafen schon." 

Ich sagte klipp und klar darauf: 
„Dann weck sie eben wieder auf." 

Idi sagte es laut und deutlidi hin 
Und hab es ihr ins Ohr gesdirien." 

Plumpsti Bumsti erhob seine Stimme beinahe zu 
einem Gebrüll, während er diesen Vers spradi, und 

73 



Alice dachte schaudernd: „Idi mödite um keinen 
Preis die Hilfsperson gewesen sein." 

„„Mit steifem Halse sah sie drein 

und spradi: „Sie brauchen nicht so zu schreinl" 

So stand sie dort mit steifem Hals 

und sprach: „Ich würde sie wecken, falls " 

Da brachte idti den Kochtopf herauf 
und spracii: „Ich weck sie selber auf." 

Und als ich das Tor verschlossen fandf 
pociit ich und rüttelte mit der Hand; 

da blieb das Tor verschlossen nocii, 

idti drückte die Klinke nieder, jedoch — "" 

Es folgte eine lange Pause. 

„Ist das alles?" fragte Alice schüchtern. 

„Das ist alles," sagte Plumpsti Bumsti. „Lebewohl!" 

Das schien Alice ziemlich plötzlich zu kommen; 
aber nach einem so deutlichen Wink, daß sie gehen 
sollte, wäre es unhöflich gewesen, noch da zu bleiben. 
So stand sie auf und hielt ihm die Hand hin. 

„Auf Wiedersehen!" sagte sie, so fröhlich sie 
konnte. 

„Ich würde dich niciit wieder erkennen, falls wir 
uns wiedersehen sollten," gab Plumpsti Bumsti ver- 
drießlich zurück und reichte ihr einen Finger. „Du 
siehst genau so aus wie andere Leute." 

„Der Unterschied ist gewöhnlicii im Gesicht," meinte 
Alice nachdenklicii. 

„Das ist ja gerade das Dumme," erklärte Plumpsti 
Bumsti. „Du hast genau so ein Gesiciit wie alle 
Leute — die zwei Augen so — " (er bezeichnete ihren 

74 



Platz in der Luft mit dem Daumen), „die Nase in 
der Mitte, der Mund darunter; es ist immer dasselbe. 
Wenn du zum Beispiel wenigstens die zwei Augen 
auf derselben Seite der Nase hättest, oder den Mund 
darüber — das wäre ein bißchen besser." 

„Das wäre aber nidit hübsdi," wandte Alice ein. 
Aber Plumpsti Bumsti sdiloß nur die Augen und 
sagte: „Warte, bis du es probiert hast" 

Alice wartete noch eine Weile, ob er wieder 
sprechen würde, aber da er weder die Augen öffnete, 
nodi sonst weiter von ihr Notiz nahm, sagte sie nodi 
einmal „Guten Tag", und als sie darauf keine Ant- 
wort erhielt, ging sie ruhig fort. Aber sie konnte nidit 
umhin, im Gehen vor sich hin zu sagen: „Von allen 
unbefriedigenden" (sie wiederholte das laut, denn 
es war ein großer Trost für sie, ein so langes Wort 
auszusprechen), „von allen unbefriedigenden Leuten, 
die ich je getroffen habe" — sie brachte den Satz 
niemals zu Ende, denn in diesem Augenblick er- 
schütterte ein heftiger Kradi den Wald von einem 
Ende bis zum andern. 



75 



VII. Kapitel. 

Der Löwe und das Einhorn. 



Im nädisten Augenblick kamen Soldaten durch den 
Wald gerannt, zuerst in Zweier- und Dreier-Reihen, 
dann zu zehn oder zwanzig, und schließlich in solchen 
Mengen, daß sie den ganzen Wald zu füllen schienen 

Alice sprang hinter einen Baum, um nicht über 
rannt zu werden, und sah zu, wie sie vorüber liefen 

Sie meinte, in ihrem Leben niemals Soldaten ge 
sehen zu haben, die so unsicher auf den Füßen waren 
Sie stolperten immer über irgend etwas, und wenn 
einer niederfiel, fielen stets mehrere über ihn, so 
daß der Boden bald mit kleinen Soldatenhaufen be- 
bedeckt war. 

Dann kamen die Reiter. Da sie auf vier Füßen kamen, 
hielten sie sich besser aufredit als die Fußtruppen, 
aber sogar sie stolperten ab und zu, und es sdiien 
eine Regel zu sein, daß der Reiter des Pferdes, das 
stolperte, sofort herunterfiel. Jeden Augenblick wurde 
die Verwirrung sciilimmer und Alice war sehr froh, 
aus dem Walde auf einen offenen Platz zu kommen, 
wo der weiße König auf dem Boden saß und eifrig 
in sein Notizbuch sciirieb. 

„Ich habe sie alle gesciiickt!" rief der König ent- 
zückt aus, als er Alice sah. „Hast du zufällig Soldaten 
getroffen, mein Kind, als du durch den Wald gingst?" 

„Jawohl," sagte Alice, „einige tausend, glaube ich." 

„Viertausendzweihundertsieben, das ist die genaue 
Anzahl," sagte der König, in sein Buch sciiauend. „Ich 
habe niciit alle Ritter senden können, weil idi zwei 
im Spiel brauche ; und die zwei Läufer habe ich auch 
nicht gesciiickt; sie sind beide in die Stadt gegangen. 

76 



Bitte, schau mal die Straße hinunter und sag mir, ob 
du einen von ihnen siehst." 

„Ich sehe niemand auf der Straße," erklärte Alice. 

„Wenn ich nur auch solche Augen hätte!" sagte der 
König betrübt. „Niemand sehen zu können, und nocii 
dazu auf diese Entfernung! In diesem Licht muß ich mich 
anstrengen, soviel icii kann, um jemand zu sehen!" 

Alice schaute nodi immer, eine Hand über die Augen, 
gespannt die Straße hinunter. „Jetzt sehe ich jemand!" 
rief sie endlicii aus. „Aber er kommt sehr langsam. 
Und was für komisciie Bewegungen er maciit!" (Denn 
der Läufer hüpfte fortwährend herum und wand sicii 
beim Gehen wie ein Aal. Dabei hielt er seine großen 
Hände zu beiden Seiten wie die Fäciier ausgebreitet.) 

„Durcfiaus nicht," sagte der König. „Es ist ein alt- 
deutscher Läufer — und das sind altdeutsciie Be- 
wegungen. Er macht sie nur, wenn er hociibeglückt 
ist; er heißt Hasius." 

„Ich liebe ihn mit einem H," begann Alice plötzlicii 
ein beliebtes Gesellsciiaftsspiel, „weil er hochbeglückt 
ist. Ich hasse ihn mit einem H, weil er häßlicii ist. 
Ich füttere ihn mit Hühnerpasteten und Heu. Er heißt 
Hasius und wohnt — " 

„Er wohnt auf der Höhe," sagte der König einfacii, 
ohne zu ahnen, daß er mitspielte, während Alice nodi 
über eine mit H beginnende Stadt naciidaciite. „Der 
andere Läufer heißt Hutmaciierius. Idi brauciie zwei, 
zum Kommen und Gehen. Einer muß kommen und 
einer muß gehen." 

„Warum muß einer kommen und einer gehen?" 
fragte Alice. 

„Hab ich dir's denn nicht gesagt?" wiederholte 
der König ungeduldig. „Zum Holen und zum Tragen, 
einer muß holen, einer muß tragen." 

77 



In diesem Augenblidc kam der Läufer an. Er war 
zu atemlos, um ein Wort zu sprechen. Er konnte nur 
die Hände schwingen und dem armen König die 
fürchterlichsten Grimassen schneiden. „Diese junge 
Dame liebt didi mit einem H," sagte der König und 
stellte Alice vor, in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit 
des Läufers von sidi abzuziehen. Aber es war ganz um- 
sonst — die altdeutschen Bewegungen wurden jeden 
Augenblick sonderbarer und die großen Augen rollten 
von einer Seite auf die andere. 

„Du regst mich aufl" sagte der König. „Mir wird 
schlecht. — Gib mir eine Hühnerpastete!" 

Darauf nahm der Läufer zu Alicens großer Be- 
lustigung aus einer Tasche, die er um den Hals 
hängen hatte, eine Hühnerpastete und übergab sie 
dem König, der sie gierig versdilang. 

„Nodi eine Pastete!" sagte der König. 

„Es ist nur noch Heu da," sagte der Läufer, mit 
einem Blick in die Tasche. 

„Dann also Heu," murmelte der König mit schwacher 
Stimme. 

Alice freute sich, zu sehen, daß es ihn neu belebte. 

„Nichts ist so gut wie Heu, wenn man fürditet, in 
Ohnmacht zu fallen," sagte er zu ihr, während er 
schmatzend kaute. 

„Ich glaube, kaltes Wasser zum Übergießen wäre 
noch besser," meinte Alice, „oder Riechsalz." 

„Ich habe ja nicht gesagt, daß es nichts Besseres 
gibt," antwortete der König. „Ich sagte nur, daß nichts 
so gut ist." Das konnte Alice nicht leugnen. 

„An wem bist du auf der Straße vorübergegangen?" 
fragte der König und hielt dem Läufer die Hand hin, 
um noch Heu zu bekommen. 

„An niemand," sagte der Läufer. 

78 



„Aha," sagte der König, „diese junge Dame hat 
ihn gesehen. Niemand geht natürlich langsamer 
als du." 

„Ich tue mein Bestes," sagte der Läufer verdrieß- 
lidi. „Sohin geht niemand schneller als idi." 

„Natürlidi nicht!" sagte der König. „Sonst hätte 
er ja zuerst da sein müssen. Wenn du aber deinen 
Atem wieder hast, mußt du uns erzählen, was in der 
Stadt vorgefallen ist." 

„Ich will es Ihnen zuflüstern," sagte der Läufer 
und legte die Hand an den Mund, verfertigte daraus 
eine Trompete und beugte sidi, so nah er konnte, 
zum Ohr des Königs. Alice tat dies leid, denn sie 
wollte die Neuigkeiten audi hören. Statt aber zu 
flüstern, brüllte er so laut er konnte : „Sie sind sdion 
wieder dabeil" 

„Nennst du das ein Flüstern?" schrie der König, 
sprang auf und schüttelte sidi. „Wenn du so etwas 
wieder tust, dann lasse idi dich beizen! Es ging durdi 
meinen Kopf durch und durdi, wie ein Erdbeben." 

Das wäre aber ein sehr winziges Erdbeben ge- 
wesen, dachte Alice. „Wer ist wieder dabei?" wagte 
sie zu fragen. 

„Nun, natürlidi der Löwe und das Einhorn," sagte 
der König. 

„Streiten sie um die Krone?" fragte Alice. 

„Natürlidi," sagte der König. „Und der größte 
Spaß ist, daß es die ganze Zeit um meine Krone 
geht. Wir wollen laufen und zusehen." 

Und sie galoppierten davon, während Alice im 
Laufen die Worte des alten Kinderliedes vor sidi 
hinsang: 

„Der Löwe mit dem Einhorn um die Kron^ gestritten hat; 
Der Löwe schlug das Einhorn rings um die ganze Stadt» 

79 



Man gab ihnen Schwarz- und Weißbrot, da wurden sie 

beide satt, 

Dann gab man ihnen Bischofsbrot und trommelte sie 

aus der Stadt." 

„Bekommt — der — der gewinnt — die Krone?" 

fragte sie, atemlos vom Laufen. 

„Oh nein," sagte der König, „was fällt dir ein?" 
„Willst du die Güte haben," keuchte Alice, „eine 

Minute aufzuhalten, bis ich meinen Atem wieder habe?" 

„Die Güte hätte ich schon," sagte der König, „aber 
nicht die Kraft. Eine Minute läuft so entsetzlich schnell, 
man könnte gerade so gut eine Banderschlange auf- 
halten wollen." 

Alice hatte keinen Atem mehr zum Spredien, also 
galoppierte sie schweigend weiter, bis sie eine große 
Menschenmenge vor sich sah, in deren Mitte der 
Löwe und das Einhorn kämpften. Sie waren von einer 
so dichten Staubwolke eingehüllt, daß Alice sie zuerst 
nicht unterscheiden konnte; aber sdiließlidi erkannte 
sie das Einhorn an seinem Hörn. Sie stellten sich 
dicht neben Hutmacherius, den zweiten Läufer, der 
mit einer Tasse Tee in der einen und einem Butter- 
brot in der andern Hand dem Zweikampf zuschaute. 

„Er ist gerade aus dem Gefängnis gekommen und 
war mit seiner Jause nicht fertig geworden, als er hinein- 
ging," flüsterte Hasius Alice ins Ohr, „und im Ge- 
fängnis bekommen sie nur Austernschalen, darum ist 
er so hungrig und durstig. Wie geht es dir, mein 
liebes Kind?" fuhr er fort und legte zärtlidi seinen 
Arm um Hutmacherius* Hals. 

Hutmacherius schaute umher und aß sein Butterbrot. 

„Ist es dir im Gefängnis gut gegangen, liebes 
Kind?" fragte Hasius. Hutmacherius schaute wieder 

80 



umher und diesmal liefen ihm ein paar Tränen über 
die Wangen, aber er sagte kein Wort. 

„Kannst du nidit spredien?" schrie Hasius un- 
geduldig. Aber Hutmacherius kaute und sdimatzte 
weiter und trank wieder Tee. 

„Willst du nidit spredien?" rief der König. „Wie 
geht's denn vorwärts mit dem Zweikampf?" 

Hutmadierius madite eine verzweifelte Anstrengung 
und schludcte ein großes Stüdc Butterbrot. „Es geht 
sehr gut vorwärts," sagte er mit erstickter Stimme. 
^Jeder von ihnen ist schon ungefähr siebenundaditzig- 
mal auf dem Boden gelegen." 

„Dann werden sie wohl bald das Weißbrot und 
das Sdiwarzbrot bringen?" wagte Alice zu bemerken. 

„Es wartet sdion auf sie," sagte Hutmacherius. 
^Das, was idi esse, ist sdion ein Siüdk. davon." Gerade in 
diesem Augenblick wurde der Zweikampf unterbrochen, 
und der Löwe und das Einhorn setzten sidi keuchend 
nieder, während der König ausrief: „Zehn Minuten Pause 
für Erfrisdiungen." Hasius und Hutmadierius fingen gleich 
an, Körbe mit Weißbrot und Sciiwarzbrot herumzutragen. 
Alice nahm davon und kostete, fand es aber sehr trodten. 

„Idi glaube, heute werden sie nidit mehr kämpfen," 
sagte der König zu Hutmacherius. „Geh und sage, 
daß sie mit dem Trommeln anfangen sollen!" 

Hutmacherius sprang davon wie ein Grashüpfer. 

Eine Weile stand Alice still und sah ihm zu. 
Plötzlich hellte sidi ihr Gesicht auf. „Sehen Sie nur," 
rief sie und zeigte eifrig mit dem Finger; „dort läuft 
die weiße Königin querüber, sie ist gerade aus dem 
Walde dort drüben herausgeflogen. Wie sdmell diese 
Königinnen laufen können!" 

„Wahrsdieinlicii ist ein Feind hinter ihr," sagte 
der König, ohne sidi auch nur umzudrehen, „dieser 
Wald ist voll von Feinden." 

js 81 



„Wollen Sie nidit hinlaufen und ihr helfen?** 
fragte Alice, sehr überrasdit, daß er die Sadie so 
ruhig aufnahm. 

„Nützt nichts, nützt nichts," sagte der König. „Sie 
läuft so furchtbar schnell; du könntest ebensogut ver- 
sudien, eine Bandersdilange einzuholen . . . Aber wenn 
du willst, werde idi es mir ins Notizbuch schreiben 
— sie ist ein lieber Kerl — " wiederholte er leise, 
während er sein Notizbuch aufmadite. „Schreibt man 
Kerl mit Doppel-r — ?" 

In diesem Augenblick sdilenderte das Einhorn an 
ihnen vorüber, die Hände in den Taschen. „Diesmal 
habe ich gewonnen, nidit wahr?" sagte es zum König 
und warf ihm im Vorübergehen einen Blick zu. 

„Ein bißdien, ein bißdien," antwortete der König 
nervös. „Du hättest ihn aber nicht mit deinem Hörn 
stechen dürfen." 

„Es hat ihm nidit weh getan," sagte das Einhorn 
gleidigültig und wollte weitergehen. Da fiel sein Auge 
zufällig auf Alice. Sofort drehte es sich um, stand eine 
Zeitlang vor ihr und sah sie mit tiefstem Absdieu an. 

„Was ist das?" sagte es endlidi. 

„Das ist ein Kind!" antwortete Hasius eifrig und 
trat vor Alice, um sie vorzustellen, indem er beide 
Hände in altdeutscher Bewegung vor ihr ausbreitete. 
„Wir haben es heute gefunden, es ist lebensgroß 
und ungewöhnlich natürlich!" 

„Idi habe immer geglaubt, daß das Fabeltiere 
sind," sagte das Einhorn. „Ist dieses da lebendig?" 

„Es kann spredien!" sagte Hasius feierlich. 

Das Einhorn schaute Alice traumverloren an und 
sagte: „Sprich, Kind!" 

Alicens Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln 
und sie fing an: „Wißt ihr, daß idi auch immer 

82 



geglaubt habe, daß Einhörner Fabeltiere sind? Idi 
habe niemals früher ein lebendiges gesehen." 

„Nun, jetzt, da wir uns gesehen haben, wirst du 
an midi glauben und ich an didi," sagte das Einhorn. 
„Abgemacht?" 

„Ja, gerne," sagte Alice. 

„Ich bitte um das Bisdiofsbrot, Alter!" fuhr das 
Einhorn fort und wandte sidi dem König zu. „Idi mag 
kein Sdiwarzbrot!" 

„Natürlidi — natürlidil" murmelte der König und 
winkte Hasius heran. „Mach die Tasdie auf!" flüsterte 
er. „Schnell — schnell! Nidit die da, die ist voll Heu!" 

Hasius nahm ein großes Bischofsbrot aus der 
Tasdie und gab es Alice zum Halten, während er 
eine Sdiüssel und ein Messer herausnahm. Wie es 
möglidi war, dies alles aus der Tasche zu ziehen, 
war Alice unverständlidi ; es sah sidi gerade so an 
wie ein Zauberkunststück. 

Der Löwe war inzwisdien zu ihnen getreten. Er sah 
sehr müde und schläfrig aus und seine Augen waren 
halb gesdilossen. „Was ist denn das?" fragte er und 
blinzelte Alice an. Er sprach mit einer tiefen, hohlen 
Stimme, die klang wie das Geläute einer großen Glocke. 

„Ja, was ist das wohl?" rief das Einhorn eifrig. 
„Das wirst du nie erraten! Idi habe es audi nicht 
erraten können." 

Der Löwe sah Alice müde an. „Bist du ein Tier 
— oder eine Pflanze — oder ein Mineral ?" fragte er, 
bei jedem Wort gähnend. 

„Es ist ein Fabeltier!" schrie das Einhorn, bevor 
Alice antworten konnte. 

„Also bitte, Fabeltier, reiche das Bischofsbrot 
herum!" rief der Löwe, legte sidi nieder, siredtte 
sich und legte das Kinn auf seine Pfote. „Setzt eudi 

83 



beide nieder," sagte er zum König und zum Einhorn; 
„das Bischofsbrot muß gerecht verteilt werden!" 

Der König fühlte sidi offenbar sehr unbehaglich, 
-weil er zwischen den zwei großen Tieren sich nieder- 
setzen mußte, aber er hatte keinen anderen Platz. 

„Jetzt könnten wir aber fein um die Krone kämpfen!" 
sagte das Einhorn und sdiaute zwinkernd die Krone 
an, die der arme König vor lauter Zittern beinahe 
vom Kopf heruntersdiüttelte. 

„Ich würde mit Leichtigkeit gewinnen," sagte der 
Löwe. 

„Dessen bin ich nidit so sicher!" sagte das Ein- 
horn. 

„Was? Ich habe dich doch rings um die ganze 
Stadt geschlagen, du Hühnchen!" antwortete der Löwe 
ärgerlich und erhob sich halb. 

„Adi," unterbradi der König, damit der Kampf 
nidit wieder anfange. Er war sehr nervös und seine 
Stimme bebte. „Ringsum die ganze Stadt, das ist ein 
weiter Weg. Sind Sie über die alte Brüdie oder über 
den Marktplatz gegangen? Die sdiönste Aussidit hat 
man von der alten Brüdce." 

„Ich weiß es wirklich nicht," gröhlte der Löwe und 
legte sich wieder nieder. „Es war zuviel Staub, man 
konnte nichts sehen. Wie lang dieses Fabeltier braucht, 
um das Bisdiofsbrot zu zersdineiden!" 

Alice hatte sidi ans Ufer eines kleinen Baches 
gesetzt, hielt die Schüssel auf den Knieen und be- 
mühte sich, mit dem Messer das Bischofsbrot durch- 
zusägen. 

„Es ist sehr ärgerlich," gab sie dem Löwen zur 
Antwort (denn sie war schon daran gewöhnt, Fabel- 
tier genannt zu werden). „Idi habe mehrere Stüdce 
geschnitten, aber sie sdiließen sidi immer wieder 
zusammen !" 



84 



„Du weißt eben Spiegelglas-Bisdiofsbrot nidit zu 
behandeln," bemerkte das Einhorn. „Man muß es zu- 
erst herumreidien und nachher schneiden." 

Das klang unsinnig, aber Alice stand gehorsam 
auf und reidite die Sdiüssel herum und das Bisdiofs- 
brot teilte sidi in drei Teile, während sie das tat. 

„So, jetzt mußt du es schneiden," sagte der Löwe, 
als sie mit der leeren Schüssel an ihren Platz zu- 
rückkam. 

„Das war nidit gerecht geteilt!" schrie das Ein- 
horn, als Alice mit dem Messer in der Hand dasaß 
und nicht wußte, was sie anfangen sollte. „Das Fabel- 
tier hat dem Löwen zweimal soviel gegeben wie mir!" 

„Dafür hat es aber sich selber niciits behalten," 
sagte der Löwe. „Hast du gerne Bisdiofsbrot, Fabel- 
tier?" 

Aber ehe Alice ihm antworten konnte, begann der 
Trommelwirbel. Wo der Lärm herkam, konnte sie 
nicht herausbringen, aber die Luft sdiien davon ganz 
erfüllt, und er drang ihr durdi den Kopf, bis sie 
meinte, taub zu sein. Sie sprang auf und übersetzte 
voll Sdiredcen den kleinen Badi — — — — — 



und hatte gerade noch Zeit zu sehen, wie der Löwe 
und das Einhorn aufsprangen, zornig über die Unter- 
brechung ihrer Mahlzeit, dann fiel sie in die Knie, 
hielt ihre Hand über die Ohren und versuchte ver- 
geblich den entsetzliciien Lärm abzuhalten. „Wenn sie 
das niciit aus der Stadt trommelt," daciite sie bei sidi, 
„dann wird man sie nie hinausbringen." 



85 



VIIL Kapitel. 

„Es ist meine eigene Erfindung**. 



Nach einer Weile sdiien der Lärm allmählich 
schwädier zu werden, bis es totenstill war. Als Alice 
beunruhigt den Kopf hob, war niemand zu sehen. Ihr 
erster Gedanke war, daß sie vom Löwen und vom 
Einhorn und von den sonderbaren altdeutschen Läufern 
geträumt haben müsse. Aber zu ihren Füssen lag 
nodi die große Schüssel, auf der sie versudit hatte, 
das Bischofsbrot zu zerschneiden. „So habe ich also 
doch nidit geträumt," sagte sie zu sich selbst, „wenn 
wir nicht etwa alle Teile desselben Traumes sind. 
Ich hoffe aber, daß es mein Traum ist und nicht 
der des schwarzen Königs. Ich möchte nicht gerne 
eine Traumgestalt einer anderen Person sein!" fuhr 
sie klagend fort. „Idti habe große Lust, hinzu- 
gehen und ihn aufzuwecicen, damit ich sehe, was 
gesciiieht!" 

In diesem Augenblick wurde sie in ihren Gedanken 
unterbrociien durcii einen lauten Ruf: „Ahoi, ahoi, 
Sdiachl" und ein Ritter, in sciiwarze Uniform gekleidet, 
kam auf sie losgaloppiert und schwang eine große 
Keule. Gerade als er sie erreiciit hatte, stand das 
Pferd plötzlich stilL „Du bist mein Gefangener!** rief 
der Ritter, während er vom Pferde fiel. 

Erschrocken, wie sie war, hatte doch Alice in 
diesem Augenblicke mehr Angst für ihn, als für sich 
selber, und beobachtete in ängstlich, wie er auf das 
Pferd stieg. Als er wieder fest im Sattel saß, fing er 
neuerdings an: „Du bist mein — ", aber hier fiel eine 
andere Stimme ein: „Ahoi, ahoi, Schach!" und Alice 
schaute sicii überrascht nach dem neuen Feind um. 



86 



Diesmal war es ein weißer Ritter. Er hielt neben 
Alice an und fiel gerade so vom Pferde, wie der 
sdiwarze Ritter gefallen war. Dann stieg er wieder 
auf und die beiden Ritter saßen da und schauten 
einander eine Zeitlang wortlos an. Alice blidite in 
einiger Verwirrung von einem zum andern. 

„Sie ist mein Gefangener!" sagte der sdiwarze 
Ritter endlidi. 

„Ja, aber dann bin idi gekommen und habe sie 
gerettet, ** antwortete der weiße Ritter 

„Dann müssen wir also um sie kämpfen," sagte 
der sdiwarze Ritter, nahm seinen Helm (der vom 
Sattel herunterhing und die Form eines Pferdekopfes 
hatte) und setzte ihn auf. 

„Du wirst natürlidi die Kampfregeln beobaditen,* 
bemerkte der weiße Ritter und setzte audi seinen 
Helm auf. 

„Das tue idi immer," sagte der sdiwarze Ritter 
und sie fingen an, mit soldier Wudit aufeinander 
loszusdilagen, daß Alice hinter einen Baum sprang, 
um aus dem Bereidi ihrer Sdiläge zu kommen. 

„Was können nur die Regeln des Kampfes sein?" 
fragte sie sidi selbst, während sie ängstlidi aus ihrem 
Verstedc hervor dem Kampf zusdiaute. „Eine Regel 
sdieint zu sein, daß, wenn ein Ritter den andern 
trifft, er ihn vom Pferde sdilägt; und wenn er ihn 
nidit trifft, fällt er selber herunter. Eine zweite Regel 
sdieint zu sein, daß sie ihre Keulen mit den Armen 
halten, als ob sie in einem Kasperltheater wären. — 
Was sie für einen Lärm madien, wenn sie herunter- 
fallen! Gerade als ob eine ganze Menge Sdiürhaken 
in den Kaminvorsatz fielen! Und wie ruhig die Pferde 
sind! Sie lassen sie hinauf und herunter, als ob es 
Tisdie wären!" 



87 



Eine weitere Kampfregel schien zu sein, daß sie 
immer auf den Kopf fallen mußten; die Schlacht 
endete damit, daß sie beide nebeneinander auf diese 
Weise herunterfielen. Als sie wieder aufstanden, 
schüttelten sie einander die Hände, dann stieg der 
schwarze Ritter auf und galoppierte davon. 

„Es war ein glänzender Sieg, nicht wahr?" keuchte 
der weiße Ritter im Herankommen. 

„Ich weiß es nicht," entgegnete Alice zweifelnd. 
„Idi will niemandes Gefangener sein. Idi will eine 
Königin sein." 

„Das wirst du sein, wenn du den nädisten Bach 
überschritten hast," sagte der weiße Ritter. „Ich werde 
dich bis an den Rand des Waldes begleiten — dann 
muß ich zurückgehen. Dort ist mein Zug zu Ende." 

„Ich danke vielmals!" sagte Alice. „Darf ich Ihnen 
aus Ihrem Helm heraushelfen?" Er konnte offenbar 
nicht allein heraus; und es gelang ihr schließlich, ihn 
aus dem Helm herauszusdiütteln. 

„Jetzt läßt sidi leiditer atmen," erklärte der Ritter, 
strich mit beiden Händen sein struppiges Haar 
zurüdi und wandte Alice sein sanftes Gesicht und 
seine großen milden Augen zu. Kein Soldat, den sie 
je gesehen hatte, war ihr noch so sonderbar vor- 
gekommen. 

Er war in eine Rüstung aus Zinn gekleidet, die 
ihm sehr schlecht saß. Um seine Schultern hing eine 
merkwürdig geformte Bleisdiachtel mit offenem Dediel 
nach abwärts. Alice sah sie neugierig an. 

„Du bewunderst meine kleine Sdiachtel," sagte 
der Ritter freundlich. „Sie ist meine eigene Erfindung, 
um Kleider und Brötchen darin aufzuheben. Siehst 
du, ich trage sie verkehrt, damit der Regen nicht 
hineinfällt." 



88 



„So fallen aber die Dinge heraus!" gab Alice 
sanft zu bedenken. „Wissen Sie, daß der Dedcel 
offen ist?" 

„Idi habe es nicht gewußt," sagte der Ritter und 
ein Schatten von Ärger zog über sein Gesidit. „Da 
muß ja alles herausgefallen sein! Und ohne Inhalt 
ist die Sdiaditel nichts wert." Er band sie los und 
wollte sie gerade in die Büsche werfen, als ihm plötz- 
lich ein Gedanke kam. Er hängte sie sorgfältig auf 
einen Baum. „Kannst du erraten, warum idi das getan 
habe?" fragte er Alice. 

Alice schüttelte den Kopf. 

„In der Hoffnung, daß Bienen ihr Nest darin 
bauen; dann bekäme idi den Honig." 

„Aber Sie haben ja ohnehin einen Bienenstock — 
— oder etwas ähnlidies — an den Sattel gebunden," 
sagte Alice. 

„]a, es ist ein sehr guter Bienenstod^," sagte der 
Ritter in unzufriedenem Ton. „Einer von den Besten. 
Aber es ist noch keine einzige Biene in seine Nähe 
gekommen. Das andere ist eine Mausefalle. Idi ver- 
mute, die Mäuse halten die Bienen ab oder die Bienen 
halten die Mäuse ab. Idi weiß es nidit sicher." 

„Ich habe mir sdion den Kopf zerbrodien, wozu 
Sie die Mausefalle haben," sagte Alice. „Es ist nidit 
sehr wahrscheinlidi, daß es auf einem Pferde Mäuse 
gibt." 

„Vielleicht nidit sehr wahrscheinlidi!" sagte der 
Ritter> „aber wenn sie dodi kommen, dann will idi 
lieber nidit, daß sie überall herumlaufen." 

„Siehst du," fuhr er nadi einer Pause fort, „es 
ist gut, wenn man für alle Fälle vorbereitet ist. Das 
ist auch der Grund, warum das Pferd alle diese Fuß- 
spangen um die Beine hat." 

89 



„Wozu sind die?" fragte Alice sehr neugierig. 

„Sie sdiützen gegen den Biß der Haifische," ant- 
-wortete der Ritter. „Es ist meine eigene Erfindung. 
Jetzt hilf mir aber aufsteigen. Ich will didi bis ans 
Ende des Waldes begleiten. Wozu ist diese Sdiüssel 
hier?" 

„Sie ist für ein Bischofsbrot bestimmt!" sagte 
Alice. 

„Dann nehmen wir sie lieber mit," sagte der Ritter. 
„Wenn wir ein Bisciiofsbrot finden, können wir sie 
brauciien. Hilf mir sie in diesen Sack stedcen." 

Das Hineinstedeen dauerte sehr lange, obwohl 
Alice den Sadc sehr sorgfältig offen hielt, weil der 
Ritter die Schüssel gar so ungeschidct hineinsteckte. 
Bei den ersten Versuchen fiel er selbst hinein. „Es 
geht knapp," sagte er, als sie die Schüssel endlidi 
hineingebradit hatten. „Es sind so viel Leuditer in 
der Tasdie." Und dann hängte er sie in den Sattel, 
der schon mit Karottenbündeln und Sdiürhaken und 
vielen anderen Dingen behängt war. 

„Ich hoffe, du hast deine Haare fest angebunden," 
fuhr er fort, als sie loszogen. 

„Nur wie gewöhnlich," sagte Alice lächelnd. 

„Wird kaum genügen," sagte er ängstlidi. „Der 
Wind ist hier so stark, so stark wie Suppe . . ." 

„Haben Sie ein Mittel erfunden, um das Haar 
gegen das Weggeblasenwerden zu schützen?" er- 
kundigte sich Alice. 

„Noch nidit," sagte der Ritter. „Aber idi habe ein 
Mittel erfunden, um es vor dem Herunterfallen zu 
schützen." 

„Das mödite ich sehr gerne kennen lernen." 

„Du nimmst zuerst einen geraden Stodt," sagte 
der Ritter, „da mußt du dein Haar hinaufklettern 
lassen, wie an einen Obstbaum. Der Grund, warum 

90 



Haar herunterfällt, ist der, daß es abwärts hängt — 
die Dinge fallen niemals aufwärts, wie du weißt. 
Dieses Mittel ist meine eigene Erfindung. Wenn du 
willst, kannst du es probieren." 

Das schien Alice keine sehr praktische Methode, 
und ein paar Minuten lang ging sie schweigend weiter 
und dachte über die Sache nach. Sie hielt jeden 
Augenblidc inne, um dem armen Ritter zu helfen, der 
wirklich kein guter Reiter war. So oft das Pferd stehen 
blieb (und das tat es sehr oft), fiel er vorne herunter ; 
und so oft es wieder weiterging (was es gewöhn- 
lich plötzlich tat), fiel er rückwärts herunter. Sonst 
ging es ziemlicii gut vorwärts, nur daß er die Ge- 
wohnheit hatte, hie und da seitwärts herunterzufallen; 
und da er das gewöhnlich nach der Seite hin tat, auf 
der Alice ging, fand sie schließlich, daß es am besten 
wäre, nidit ganz dicht neben dem Pferd zu gehen. 

„Idi fürdite, Sie haben im Reiten nicht sehr viel 
Übung," wagte sie zu sagen, während sie ihm zum 
fünftenmal hinaufhalf. 

Der Ritter sah sehr überrascht und ein wenig be- 
leidigt drein. „Warum sagst du das?" fragte er, 
während er in den Sattel zurüdikletterte. Er hielt 
dabei Alicens Haare mit einer Hand fest, um nicht 
auf der anderen Seite herunterzufallen. 

„Weil Leute, die Übung haben, nidit so oft herunter- 
fallen." 

„Idi habe sehr viel Übung," sagte der Ritter sehr 
ernst. „Sehr viel Übung." 

Alice fiel nichts besseres ein als : „Wirklich?" Aber 
sie sagte es so herzlich sie konnte. Sie zogen 
eine Weile sciiweigend weiter, der Ritter mit ge- 
sciilossenen Augen vor sidi hinmurmelnd, Alice ängst- 
lidi seinen nächsten Sturz erwartend. 

91 



„Die größte Kunst beim Reiten," begann der Ritter 
plötzlidi mit lauter Stimme und schwang beim Sprechen 
seinen rediten Arm — „ist das Gleichge" — hier 
endete der Satz ebenso plötzlich wie er begonnen 
hatte, denn der Ritter fiel schwer auf seinen Kopf, 
gerade auf den Weg, auf dem Alice ging. Sie war 
diesmal sehr erschrocken und sagte ängstlich, als sie 
ihn aufhob: „Ich hoffe, Sie haben sich keine Knodien 
gebrochen?" 

„Keine nennenswerten," sagte der Ritter, als ob 
nicht viel daran läge, einige Knochen zu brechen. 
„Die größte Kunst beim Reiten ist," sagte er, „das 
Gleidigewicht zu halten. Siehst Du, so?" — 

Er ließ die Zügel sinken und streckte beide Arme aus, 
um Alice zu zeigen, was er meinte ; und diesmal fiel er 
platt auf den Rücken, gerade unter die Füße des Pferdes. 

„Sehr viel Übung," wiederholte er wieder, während 
ihn Alice wieder auf die Beine brachte. „Sehr viel 
Übung!" 

„Das ist zu lächerlich!" rief Alice, diesmal alle 
Geduld verlierend. „Sie sollten ein hölzernes Pferd 
auf Rädern haben, jawohl!" 

„Gehen die sehr ruhig?" fragte der Ritter voll 
Interesse und schlug die Arme um den Hals des 
Pferdes, gerade reditzeitig, um sidi vor einem neuer- 
lidien Herunterfallen zu bewahren. 

„Viel ruhiger als ein lebendiges Pferd," sagte Alice 
und mußte laut auflachen, obwohl sie sich sehr be- 
mühte, es zu unterdrücken. 

„Dann will ich. eines suchen," sagte der Ritter nach- 
denklich zu sich selbst. „Einige — mehrere." 

Hierauf folgte ein kurzes Stillschweigen und dann 
fuhr der Ritter fort: „Ich bin sehr geschickt im Er- 
finden. Du wirst bemerkt haben, als du mich das 
letztemal aufhobst, daß idi ziemlidi nachdenklich aussah." 

92 



„Sic waren allerdings ein bißdien ernst," sagte 
Alice. 

„Nun, da habe idi gerade eine neue Art erfunden, 
wie man über einen Zaun kommen kann. Willst du 
etwas darüber hören?" 

„Sehr gerne," sagte Alice höflidi. 

„Idi will dir sagen, wie idi darauf gekommen bin," 
sagte der Ritter. „Siehst du, ich sagte mir, die einzige 
Sdiwierigkeit sind die Füße, der Kopf ist schon hodi 
genug: also lege ich zuerst meinen Kopf auf den 
Zaun — dann ist der Kopf hodi genug — dann stehe 
ich auf meinem Kopf, dann sind die Füße hodi genug 
und dann bin idi sdion drüber." 

„Ja, dann wären Sie drüber," sagte Alice nadi- 
denkhdi; „aber glauben Sie nidit, daß das ziemlich 
schwer ist?" 

„Idi habe es noch nicht versucht," sagte der Ritter 
ernst; „also kann idi es nicht sidier sagen, aber ich 
fürchte, es ist ein bißdien schwer." Er sah bei dieser 
Vorstellung so bekümmert aus, daß Alice rasdi das 
Thema wechselte. 

„Was für einen merkwürdigen Helm Sie haben." 
sagte sie. „Ist das audi Ihre Erfindung?" 

Der Ritter sdiaute stolz auf den Helm, der ihm 
vom Sattel herunterhing. 

„ja, aber ich habe einen besseren erfunden. Der 
ist wie ein Zuckerhut. Wenn ich ihn trug und vom 
Pferd fiel, dann berührte er sofort den Boden; idi 
hatte also nidit sehr weit zu fallen. — Aber es be- 
stand natürlich die Gefahr, hineinzufallen. Das gesdiah 
mir einmal — und das schlimmste war, ehe idi wieder 
herauskommen konnte, kam der andere weiße Ritter 
und setzte ihn auf; er dadite, es sei sein Helm." 

Der Ritter sdiaute so feierlich drein, daß Alice 
nidit zu lachen wagte. „Ich fürdite, Sie müssen ihm 

93 



weh getan haben/ sagte sie mit zitternder Stimme, 
„wenn Sie auf seinem Kopf saßen." 

„Natürlich habe ich ihn gestoßen," sagte der Ritter 
sehr ernst und dann nahm er den Helm wieder ab, 
„aber es dauerte Stunden und Stunden, bis man micii 
herausgezogen hatte. Idi steckte so fest drin — wie 
ein Weihnachtsfest." 

„Aber das ist ein anderes ,fest'," widersprach Alice. 

Der Ritter sdiüttelte den Kopf. „Idi saß so fest 
wie nur möglich, das kann ich dich versidierni" Er 
hob aufgeregt die Hand und augenblicklich rollte er 
aus dem Sattel und fiel kopfüber in einen tiefen 
Graben. 

Alice sprang an den Rand des Grabens, um ihn 
zu sehen. Sie war sehr ersdirocken, denn sie fürchtete, 
daß er sidi diesmal wirklicii weh getan hätte. Aber 
obwohl sie nidits als die Sohlen seiner Füße sehen 
konnte, war sie sehr erleichtert, zu hören, daß er in 
seinem gewöhnlidien Ton weitersprach. „So fest wie nur 
möglidi," wiederholte er, „aber es war sehr leidit- 
sinnig von ihm, den Helm eines anderen Menschen 
aufzusetzen, wo nodi dazu der Mensch drin siedete." 

„Wie können Sie nur so ruhig weiter sprechen, 
wenn Sie mit dem Kopf nach abwärts stehen?" fragte 
Alice, während sie ihn bei den Füßen herauszog und 
Ihn auf das Ufer hinlegte. Der Ritter schien durdi 
die Frage überrascht. „Was liegt daran, wo mein 
Körper zufällig ist?" sagte er. „Mein Geist arbeitet 
dodi weiter. Ja, jemehr kopfabwärts ich mich befinde, 
destomehr neues kann ich erfinden." 

„Das Gescheiteste, was idi in dieser Richtung je 
getan habe," fuhr er nach einer Pause fort, „war, daß 
idi während des Bratens eine neue Mehlspeise er- 
funden habe." 



94 



„Noch rechtzeitig, um sie für den nächsten Gang 
zu kochen?" fragte Alice. »Nun, da sind Sie wirklich 
flink gewesen." 

„Nein, nidit für den nächsten Gang," sagte der 
Ritter langsam und nadidenklidi. „Nein, gewiß nidit 
für den nädisten Gang." 

„Also dann wohl für den nächsten Tag ? Ich nehme 
an, daß Sie nicht zwei Mehlspeisen bei ein und dem- 
selben Mittagessen gehabt haben," sagte Alice. 

„Nein, nicht für den nächstenTag," wiederholte 
der Ritter wie vorher. „Nicht für den nächsten Tag," 
fuhr er fort und hielt den Kopf abwärts, während 
seine Summe immer leiser wurde; „ich glaube nicht, 
daß diese Mehlspeise jemals wirklich gekocht worden 
ist. Ich glaube nicht, daß diese Mehlspeise jemals 
gekocht werden wird; und doch war es als Erfindung 
eine so gescheite Mehlspeise!" 

„Woraus hätte sie gemacht werden sollen?" fragte 
Alice, um ihn aufzuheitern, denn der arme Ritter 
schien ganz niedergedrückt. 

„Erstens kommt Löschpapier hinein," sagte der 
Ritter stöhnend. 

„Das würde nicht sehr gut schmecicen, fürchte 
ich." — 

„Allein nicht," unterbrach er sehr eifrig. „Aber 
du hast keine Ahnung, wie es schmecket, wenn man 
es mit anderen Dingen mischt, so zum Beispiel mit 
Schießpulver und Siegellacke. Und hier muß ich dich 
verlassen." Sie waren gerade an das Ende des Waldes 
gekommen. 

Alice schaute verdutzt drein. Sie dachte an die 
Mehlspeise. 

„Du bist traurig," sagte der Ritter ängstlich. „Laß 
mich dir zum Trost ein Lied singen." 

95 



„Ist es sehr lang?" fragte Alice, denn sie liatte 
heute schon ziemlich viele Lieder gehört. 

„Es ist lang," sagte der Ritter. „Aber es ist sehr, 
sehr sdiön. Jeder, der es singen hört, fängt entweder 
zu weinen an oder sonst — " 

„Oder was sonst?" fragte Alice, denn der Ritter 
madite eine Pause. 

„Oder sonst eben nicht! Der Name des Liedes 
heißt: ,Härings Augen'." 

„Ist das wirklidi der Name des Liedes?" fragte 
Alice, bemüht, sidi für die Sache zu interessieren. 

„Nein, du verstehst nicht!" sagte der Ritter ärger- 
lich. „So wird der Name genannt, der Name ist: 
,Der alte, alte Mann'." 

„Dann hätte ich sagen sollen, so heißt also das 
Lied?" korrigierte sidi Alice. 

„Nein, das hättest du nicht sagen sollen. Das ist 
wieder ganz etwas anderes. Das Lied heißt: ,Wege 
und Arten'. Aber so heißt es nur." 

„Was ist es denn also?" fragte Alice und war 
jetzt schon vollständig verwirrt. 

„Darauf komme ich jetzt," sagte der Ritter. „Das 
Lied ist: ,Sitzen auf einem Zaun' und die Melodie 
ist meine eigene Erfindung." 

Während er das sagte, hielt er sein Pferd an 
und ließ ihm die Zügel auf den Rüdcen fallen. Dann 
fing er zu singen an und schlug mit der einen Hand 
langsam den Takt dazu, während ein schwaches Lächeln 
sein sanftes, närrisches Gesicht überglänzte, als ent- 
zücke ihn die Melodie seines Liedes. 

Von allen merkwürdigen Sachen, die Alice während 
ihrer Reise durchs Spiegelland sah, behielt sie dieses 
Bild immer am deutlichsten in Erinnerung. Noch viele 
Jahre später konnte sie sich die ganze Szene ins 
Gedächtnis zurückrufen, als ob sie sich erst gestern 

96 



ereignet hätte: die sanften blauen Augen und das 
freundlidie Lächeln des Ritters — die untergehende 
Sonne, die durch sein Haar leuditete und auf seiner 
Rüstung glänzte, in einer Lichtfülle, von der sie ganz 
geblendet war; — das Pferd, daß sidi langsam be- 
wegte und leise mit über den Hals herabhängenden 
Zügeln das Gras zu ihren Füßen abweidete — und 
die schwarzen Schatten des Waldes dahinter — all 
dies prägte sich ihr ein wie ein Gemälde, und mit 
einer Hand ihre Augen beschattend, lehnte sie sich 
an einen Baum, betrachtete das sonderbare Paar und 
lauschte halb im Traum der traurigen Melodie des 
Liedes. 

„Aber die Melodie ist nicht seine eigene Er- 
findung," sagte sie zu sicii selbst „Es ist die Melodie 
von ,Ach, wie ist*s möglicii dann*.* Sie stand und 
lauschte aufmerksam, aber keine Träne kam ihr in die 
Augen. 

Adi, wie isfs möglich dann, 

kann ich dir*s anvertrauen? 

Idi sah einen müden, alten Mann 

sitzen auf einem Zaun. 

„Wie lebst du, Alter?" fragt* icii ihn, 

„erzähl mirsi Sei so liebl" 

Die Antwort floß mir durch den Sinn 

wie Wasser durch ein Sieb. 

Er sprach: „Ich fange Falter ein 
auf Feldern und Blumenbeeten, 
die press* icii und tue Gewürz hinein 
und verkaufe sie als Pasteten, 
verkaufe sie Männern, die die Flut 
durciifahren bei Sturmestosen, 
und davon leb idi," Er zog den Hut 
„Icii bitte um ein Almosen!" 

97 



Ich dachte gerade nach: Wie kann 
man grün sich färben den Bart 
und ihn für immer bedecken dann 
mit einem Fächer zart? 
Drum bracht ich keine Antwort vor, 
ich sdirie dem armen Tropf: 
„Sag, wovon lebst du?" laut ins Ohr 
und schlug ihn auf den Kopf. 

Mild nahm er die Erzählung auf: 

„Ich wandre dann und wann 

und treff ich eines Baches Lauf, 

so zünde ich ihn an. 

Draus madi ich einen Quark, der heißt 

Rolands Macassar-Öl; 

und schlecht bezahlt man, was ich leiste 

wie ich mich schind und quäl." 

Doch ich erwog die Möglichkeit, 
mich rein von Teig zu nähren 
und so sdiön langsam mit der Zeit 
mein Sdiwergewicht zu mehren." 
Ich schüttelte ihn fürchterlich 
bis er sich blau verfärbte. 
„Sag mir, wovon du lebst I" schrie ich^ 
indem ich wild ihn gerbte. 

„Nadi Heringsaugen jage ich" 

sprach er, „im Heidekraut; 

ich sdineide Hosenknöpfe draus 

Nachts, eh der Morgen graut, 

und die verkauf ich — nicht um Gold,, 

auch nicht um Silbers Pracht — 

nein, um ein schlichtes Pfennigstüdc^ 

und dafür kriegst du acht . . . 



98 



Idi setze den Krabben Fallen aus 
und grabe nadi Butterstollen; 
oft sudie idi Omnibusräder im Gras 
zwischen Gestrüpp und Knollen. 
Auf diese Art" (er blinzelte) 
„erwerbe idi Sdiätze und Ehren. 
Audi will idi gern auf Euer Wohl, 
mein Herr, ein Gläslein leeren." 

Jetzt endlidi hörte idi, was er spradi, 
denn idi hatte midi eben entsdiieden, 
die Menaibrüdce zum Sdiutz gegen Rost 
in heißem Wein zu sieden. 
Idi dankte ihm für den Beridit 
und daß er mir zu Ehren 
auf sidi genommen die sdiwere Pflidit, 
ein ganzes Glas zu leeren. 

Und jetzt nodi, wenn idi ab und zu 

die Hand in Klebstoff stedce, 

oder wenn in den linken Sdiuh 

meinen rediten Fuß idi stredce, 

oder wenn ein sdiweres Budi mit Sdiwung 

idi auf die Zehen mir sdileudern kann, 

dann weine idi in der Erinnerung 

an jenen armen alten Mann. 

Sein Blidc war mild, seine Stimme leis, 

sein Haar wie frisdier Sdmee so weiß, 

sein Antlitz glidi dem einer Gais, 

die Augen glühten kerzenweis, 

sein Körper drehte sidi im Kreis, 

es sdiien sein Herz erstarrt zu Eis, 

als war sein Mund gefüllt mit Mais, 

so murmelte der arme Greis 

an jenem Sommerabend heiß, 

und saß auf einem Zaun. 



99 



Während der Ritter die letzten Worte der Ballade 
sang, faßte er die Zügel und wandte den Kopf seines 
Pferdes dem Wege zu, den sie gekommen waren. 
„Jetzt hast du nur mehr ein paar Sdiritte zu gehen," 
sagte er. „Den Hügel hinunter und über jenen kleinen 
Badi, und dann bist du eine Königin — aber du 
wirst mir dodi zuerst nadisdiauen, wenn ich fortreite?" 
fügte er hinzu, als Alice sidi eifrig in die gewiesene 
Richtung wandte. „Es dauert nicht lange. Du mußt 
warten und mit deinem Taschentudi winken, bis idi 
dort die Biegung der Straße nehme! Ich glaube, es 
wird mir Mut machen.* 

„Natürlich warte idi,* sagte Alice. „Ich danke 
Ihnen vielmals, daß Sie mich so weit begleitet haben, 
und auch für das Lied — es hat mir sehr gut gefallen." 

Das hoffe ich," sagte der Ritter zweifelnd. „Aber 
du hast nicht so sehr geweint, wie ich erwartet hätte." 

So schüttelten sie einander die Hände und der 
Ritter trabte langsam dem Walde zu. „Es wird nicht 
lange dauern, bis er wieder herunterfällt," sagte Alice, 
während sie ihm nachschaute. „Hailoh! da liegt er 
schon! und wirklidi auf dem Kopf. Er kommt aber 
ziemlich leidit wieder hinauf — das kommt daher, 
daß er soviel Übung im Wiederaufsteigen hat." — So 
redete sie zu sich selbst, während sie zusah, wie das 
Pferd langsam über die Straße ging und der Ritter 
zuerst auf der einen, dann auf der andern Seite 
herunterfiel. Nach dem vierten oder fünften Sturze 
erreichte er die Biegung und sie winkte mit dem 
Taschentuch und wartete, bis er ihr aus den Augen 
verschwunden war. 

„Hoffentlidi hat es ihm Mut gemadit." sagte sie, 
während sie den Hügel hinabging. „Und jetzt über 
den letzten Badi und dann bin ich Königin! Wie 
großartig das klingt!" 

100 



Wenige Sdiritte brachten sie an den Rand des 
Baches. „Endlich das achte Feld!** rief sie, sprang 
hinüber — — — — — — — — — — 



und warf sich, um auszuruhen, auf einen Rasenplatz 
nieder. Der war weidi wie Moos und hie und da mit 
kleinen Blumenbeeten besteckt. „Adi, wie froh bin ich, 
hier zu sein! Aber was ist das auf meinem Kopf?" 
rief sie erschrocken und faßte etwas sehr sdiweres, 
das ihr ganz fest auf dem Kopfe saß. 

„Wie ist das nur unbemerkt heraufgekommen?" 
fragte sie sidi, als sie es abhob und auf ihren Sdioß 
setzte, um herauszufinden, was es wohl sein könnte. 
Es war eine goldene Krone. 



101 



IX. Kapitel. 

Königin Alice« 



„Das ist wirklich großartig!" sagte Alice. „Ich habe 
nicht erwartet, so bald Königin zu werden. Idi will 
Ihnen etwas sagen, Majestät," fuhr sie in strengem 
Ton fort. (Sie zankte immer gerne mit sidi selbst.) 
„Es schickt sidi durchaus nicht, daß Sie da so auf 
dem Gras umhersitzen; Königinnen müssen sidi würde- 
voll betragen!" 

Sie stand also auf umd ging umher, zuerst ziemlich 
steif, denn sie fürchtete, daß ihr die Krone herunter- 
fallen könnte; aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, 
daß niemand sie sah. „Und wenn ich wirklich eine 
Königin bin," sagte sie und setzte sich wieder nieder, 
„dann werde idi sie schon mit der Zeit tragen lernen." 

Alles ereignete sich auf so sonderbare Art, daß 
sie nicht im geringsten überrascht war, als plötzlich 
die schwarze und die weiße Königin dicht neben ihr 
saßen, eine auf jeder Seite. Sie hätte sie gar zu 
gerne gefragt, wie sie hergekommen wären, aber sie 
fürchtete, unhöflich zu sein. Das aber meinte sie wohl 
fragen zu dürfen, ob das Spiel sdion vorüber sei. 

„Würden Sie so gut sein, mir zu sagen," — fing 
sie an und sah die schwarze Königin schüchtern an. 

„Spridi erst, wenn man dich anredet!" unterbrach 
die schwarze Königin sie scharf. 

„Wenn Sie immer nur sprechen würden, nachdem 
man Sie angeredet hat, und wenn audi die andern 
Leute das gleiche täten, dann würde nie jemand 
etwas sagen, so daß — " 

„Lächerlicii!" rief die Königin. „Siehst du nicht, 
Kind — " 



102 



Hier unterbrach sie sich und runzelte die Stirne, 
dadite einen Augenblidc nadi und wechselte das 
Thema. „Was hast du gemeint, als du sagtest: »Wenn 
ich wirklidi eine Königin bin'? Wit welchem Recht 
nennst du dich so? Du kannst natürlich keine Königin 
sein, ehe du die Prüfung bestanden hast; und je 
früher wir damit anfangen, desto besser." 

„Ich sagte nur, wenn!" verteidigte sich die arme 
Alice in mitleidswürdigem Ton. 

Die beiden Königinnen wechselten Blicke und die 
schwarze Königin bemerkte mit einem kleinen Schauder: 
„Sie sagt, sie habe nur gesagt, wenn — " „Aber sie 
hat viel mehr gesagt ]** stöhnte die weiße Königin und 
rang die Hände. „Oh, oh, oh, viel, viel mehr 
als das!" 

„Jawohl, das ist wahr!" sagte die schwarze Königin 
zu Alice. „Sprich immer die Wahrheit — denk nach, 
bevor du sprichst — und schreibe es naciiher auf." 

„Ich habe wirklich nicht geglaubt — " fing Alice an; 
aber die schwarze Königin unterbracii sie ungeduldig: 
„Gerade das ist das Sciilimme. Du hättest glauben 
sollen! Was ist ein Kind ohne Glauben wert? Gar 
nichts! Du kannst das niciit leugnen, nicht einmal, 
wenn du es mit beiden Händen probierst." 

„Ich leugne nicht mit den Händen," wandte Alice ein, 

„Niemand hat gesagt, daß du das tust," sagte die 
schwarze Königin; „ich habe gesagt, du kannst es 
nicht, auch wenn du es probierst." 

„Sie ist in einer Stimmung," sagte die weiße 
Königin, „in der sie irgend etwas leugnen will, sie 
weiß nur nicht, was!" 

„Ein abscheulicher Charakter," sagte die schwarze 
Königin, und dann folgte minutenlanges, unbehagliciies 
Schweigen. 

103 



Die schwarze Königin unterbradi die Stille, indem 
sie zur weißen Königin sagte: „Idi lade Sie für heute 
zu Alicens Abendgesellschaft ein!" 

Die weiße Königin lächelte schwach und sagte: 
„Und ich lade Sie dazu eini" 

„Ich wußte nicht, daß idi überhaupt eine Abend- 
gesellschaft geben soll," sagte Alice. „Wenn ich 
aber eine gebe, dann sollte ich die Gäste einladen, 
glaube ich." 

„Wir haben dir ja Gelegenheit gegeben, das zu 
tun," bemerkte die sdiwarze Königin. „Aber ich denke, 
du hast noch nicht viel Sdiulstunden in Manieren 
gehabt?" 

„Manieren werden nidit in Schulstunden gelehrt," 
sagte Alice. „In den Schulstunden lernt man Rechnen 
und solche Sachen." 

„Kannst du addieren?" fragte die weiße Königin. 
„Wieviel ist eins und eins und eins und eins und 
eins und eins?" 

„Ich weiß nicht," sagte Alice, „ich habe nidit gezählt." 

„Addieren kann sie nicht," unterbradi die schwarze 
Königin. 

„Kannst du subtrahieren ? Zieh neun von acht ab." 

„Neun von acht kann ich nicht abziehen," ant- 
wortete Alice eifrig. 

„Subtrahieren kann sie audi nicht," sagte die weiße 
Königin. 

„Kannst du teilen? Teile einen Laib Brot durch 
ein Messer, was kommt heraus?" 

„Ich glaube — " begann Alice, aber die schwarze 
Königin antwortete für sie: „Butterbrot natürlich." 

„Versuch noch eine Subtraktion. Nimm einem Hund 
einen Knochen weg; was bleibt?" 

Alice überlegte. „Der Knochen bleibt natürlich 
nicht, wenn ich ihn wegnehme, und der Hund bleibt 

104 



auch nicht, er kommt und beißt mich; und ich würde 
auch nidit bleiben, sicher nicht!" 

„Da würde also nichts bleiben?" fragte die 
schwarze Königin. 

„Ich denke." 

„Wie gewöhnlich falscii," sagte die schwarze 
Königin. „Die Wut des Hundes würde bleiben." 

„Wahrsciieinlicii," sagte Alice und dadite bei sich: 
Was für einen fürchterliciien Unsinn reden wir da 
zusammen! 

„Also rechnen kann sie niciit im geringsten," sagten 
die beiden Königinnen zugleich mit großem Naciidruc^. 

„Können Sie reciinen?" fragte Alice und wandte 
sich plötzlich an die weiße Königin, denn sie hörte 
niciit gerne, daß man so viel an ihr aussetzte. 

Die Königin schnappte nadi Luft und schloß die 
Augen. „Addieren kann ich," sagte sie, „wenn man 
mir Zeit läßt — aber subtrahieren kann icii unter gar 
keinen Umständen." 

„Natürlich kannst du das ABC?" fragte die schwarze 
Königin. 

„Gewiß," sagte Alice. 

„Das kann ich auch." flüsterte die weiße Königin. 
„Wir wollen es oft miteinander hersagen, liebes 
Herz; und dann will icii dir ein Geheimnis anver- 
trauen. — Ich kann die Worte mit einem einzigen 
Buchstaben lesen! Ist das nicht großartig? Verlier 
aber niciit den Mut, du wirst das mit der Zeit aucii 
noch erlernen." 

Hier begann die schwarze Königin wieder: „Kannst 
du nützliche Fragen beantworten? Wie macht man 
Brot?" 

„Das weiß ich!" rief Alice eifrig. „Man nimmt Mehl — " 

„Wo pflückt man das Mehl?" fragte die weiße 
Königin. „Wächst es auf Bäumen oder auf Büsciien?" 

105 



„Man mahlt es," erklärte Alice. 

„Mit welcher Farbe malt man es ?" fragte die weiße 
Königin. „Du läßt immer das Widitigste aus." 

„Fächle ihren Kopf," unierbradi die sdiwarze 
Königin ängstlidi, „sie wird vom vielen Nachdenken 
Fieber bekommen." Nun fingen sie an, ihr mit Blätter- 
bündeln so lang den Kopf zu fächeln, bis sie sie 
bitten mußte, aufzuhören, weil der Wind ihr Haar so 
durciieinanderblies. 

„jetzt ist sie wieder in Ordnung," sagte die sciiwarze 
Königin. „Kannst du Sprachen? Wie heißt Lirum Larum 
auf französisch?" 

„Lirum Larum ist nicht deutsdi," antwortete Alice 
ernst. 

„Wer hat gesagt, daß es deutsdi ist?" sagte die 
schwarze Königin. Alice meinte diesmal einen Ausweg 
aus der Schv/ierigkeit zu sehen. „Wenn Sie mir sagen, 
was für eine Sprache Lirum Larum ist, dann will ich 
Ihnen sagen, wie es auf französisch heißt!" rief sie 
triumphierend aus. 

Aber die schwarze Königin hob den Kopf steif 
und sagte: „Königinnen machen keine Geschäfte." 

Wenn nur Königinnen auch keine Fragen stellten! 
dachte Alice bei sidi. 

„Wir wollen nicht streiten," sagte die weiße Königin 
ängstlidi. „Was ist die Ursache des Blitzes?" 

„Die Ursache des Blitzes", sagte Alice sehr ent- 
schieden, denn diesmal fühlte sie sich sidier, „ist der 
Donner — nein, nein," verbesserte sie sich rasdi, 
„es ist umgekehrt." 

„Es ist zu spät, das riditigzustellen," sagte die 
schwarze Königin. „Wenn du etwas einmal aus- 
gesprochen hast, dann ist es so und dann mußt du 
die Folgen tragen." 

106 



„Da fällt mir ein — " sagte die weiße Königin 
und schaute zu Boden, wobei sie nervös ihre Hand 
auf- und zumachte, „letzten Dienstag hatten wir so 
ein Gewitter — ich meine an einer von den letzten 
Dienstag-Gruppen." 

Alice war erstaunt. „In unserem Lande", bemerkte 
sie, „ist immer nur ein Tag auf einmal." 

Die schwarze Königin sagte: „Das ist eine sehr 
armselige Methode. Hier haben wir gewöhnlich zwei 
oder drei Tage auf einmal und im Winter nehmen 
wir manchmal fünfNädite zugleidi, damit es wärmer ist." 

„Sind denn fünf Nädite wärmer als eine?" wagte 
Alice zu fragen. 

„Fünfmal so warm natürlich." 

„Aber sie sollten eigentlich auch fünfmal so kalt 
sein." 

„Natürlich," rief die Königin; „fünfmal so warm 
und fünfmal so kalt, genau so, wie idi fünfmal so 
reidi bin als du und fünfmal so gesdieit." 

Alice seufzte. Das ist genau wie ein Rätsel ohne 
Auflösung, dadite sie. 

„Plumpsü Bumsti hat es auch gesehen." fuhr die 
weiße Königin mit leiser Stimme fort, gleichsam im 
Selbstgesprädi. „Er kam mit einem Kochtopf in der 
Hand zur Tür — " 

„Was wollte er?" fragte die sdiwarzc Königin. 

„Er sagte, er müsse hereinkommen," fuhr die weiße 
Königin fort, „weil er ein Nilpferd sudie. Zufällig war 
aber gerade damals keins im Haus." 

„Ist gewöhnlich eins da?" fragte Alice erstaunt. 

„Nun, nur an Donnerstagen," sagte die Königin. 

„Idi weiß, warum er gekommen ist," sagte Alice, 
„er wollte den Fisdi bestrafen, weil — " 

Hier begann die weiße Königin von neuem. „Es 
war ein so furditbares Gewitter, du kannst es dir 

107 



nicht denken!" („Sie hat niemals denken können, 
weißt du,** sagte die schwarze Königin.) „Und ein 
Stüdc Dach fiel ab und Unmengen von Donner fielen 
herein und rollten in großen Klumpen im Zimmer 
herum und hauten Tische und Schränke um — bis 
ich vor lauter Angst mich nicht einmal an meinen 
eigenen Namen erinnern konnte." 

Alice dachte bei sich: inmitten eines Gewitters 
würde ich gar nicht versuchen, mich an meinen 
Namen zu erinnern. Wozu auch? Aber sie sagte das 
nicht laut, um die arme Königin nicht zu kränken. 

„Eure Majestät müssen sie entschuldigen," sagte 
die schwarze Königin zu Alice, nahm eine Hand der 
weißen Königin in ihre eigene und streichelte sie 
sanft. „Sie meint es gut, aber sie kann nichts dafür, 
sie muß gewöhnlich dummes Zeug reden." 

Die weiße Königin sah Alice ängstlich an. Diese 
hätte gerne irgend etwas Freundliches gesagt, aber 
es fiel ihr im Augenblick nichts ein. 

„Nun, sie ist niemals gut erzogen worden," fuhr 
die schwarze Königin fort, „aber es ist erstaunlich 
wie gutmütig sie ist. Tätschle sie einmal auf den Kopf 
du wirst sehen, wie sie sich freut!" Aber das traute 
sich Alice doch nicht. 

„Wenn man ein wenig freundlich mit ihr wäre 
und ihr das Haar kräuselte — da könnte man alles 
Mögliche aus ihr machen." 

Die weiße Königin seufzte tief und legte ihren Kopf 
an Alicens Schulter. „Ich bin so schläfrig," stöhnte sie. 

„Sie ist müde, die Arme!" sagte die schwarze 
Königin. „Glätte ihr das Haar, leih ihr deine Nacht- 
mütze und singe ihr ein beruhigendes Wiegenlied." 

„Ich habe keine Nachtmütze bei mir," sagte Alice 
und versuchte dem ersten Befehl zu folgen. „Und ich 
kann kein beruhigendes Wiegenlied." 

108 



„Dann muß ich es selbst tun," sagte die schwarze 
Königin und begann: 

»Schlaf, Kindchen, schlafe, in Alicens Schoß! 
Bis zum Abendessen sciilafen wir famos. 
Nach dem Abendessen gehen wir zum Balle, 
Wir beide Königinnen, Alice und wir allel 

„Jetzt kannst du es also," fügte sie hinzu und 
legte ihren Kopf an Alicens andere Schulter. „Jetzt 
sing es mir, ich bin auch schläfrig." Im nächsten Augen- 
blick schliefen beide Königinnen und schnarchten laut. 

„Was soll ich tun?" rief Alice und schaute sehr 
bestürzt herum, als zuerst der eine und dann der 
andere der beiden Köpfe von ihrer Schulter herunter- 
rollte und wie ein schwerer Klumpen ihr in den Schoß 
fiel. „Ich glaube, es ist noch nie vorgekommen, daß 
jemand zwei schlafende Königinnen auf einmal be- 
wachen mußte. Nein, nicht in der ganzen Welt- 
geschichte. — Wacht doch auf, ihr schweren Dinger!" 
fuhr sie ungeduldig fort; aber es kam keine Antwort, 
nur ein leises Schnarchen. 

Das Schnarchen wurde jeden Augenblick deutlicher 
und klang immer mehr wie eine Melodie; endlich 
konnte sie sogar Worte unterscheiden und lauschte 
eifrig. Als die beiden großen Köpfe von ihrem Schoß 
verschwanden, vermißte sie sie kaum. 

Sie stand plötzlich vor einem Torbogen, über dem 
die Worte „Königin Alice" in großen Buchstaben auf- 
geschrieben waren. An jeder Seite war eine Glocke; 
über der einen las sie „Besucherglocke", über der 
anderen „Dienerglocke". 

„Ich will warten, bis das Lied zu Ende ist," dachte 
Alice, „und dann will ich läuten; aber an welcher 
Glocke? Ich bin kein Besucher und bin auch kein 
Diener. Es sollte noch eine Glocke für die Königin 

109 



geben." Gerade da ging die Tür ein wenig auf; 
irgend jemand mit einem langen Schnabel steckte 
einen Augenblidk den Kopf durch und sagte: „Hier 
wird bis übernächste Woche niemand eingelassen." 
Und dann ließ er die Tür krachend wieder ins Schloß 
fallen. Alice klopfte und läutete vergebens; aber end- 
lich stand ein sehr alter Frosch auf, der unter einem 
Baum saß, und humpelte langsam auf sie zu. Er war 
in ein hellgelbes Gewand gekleidet und hatte un- 
geheuer große Stiefel an. 

„Was gibt*s denn?" fragte der Frosdi in heiserem 
Flüsterton. 

Alice kehrte sidi übellaunig um. „Wo ist denn 
der Diener, der hier die Tür bedienen soll?" fing sie 
ärgerlich an. 

„Welche Tür?" fragte der Frosch. 

Alice stampfte fast mit dem Fuß auf vor Ungeduld, 
weil er die Worte so langweilig dehnte. „Diese Tür 
natürlidil" 

Der Frosch sdiaute die Tür mit seinen großen 
dummen Augen eine Weil^ an, dann ging er näher 
hin und rieb sie mit seinem Daumen, als wollte er 
versuchen, ob die Farbe heruntergehe; dann schaute 
er Alice an. 

„Die Tür bedienen?" sagte er. „Die Tür hat ja 
nichts verlangt." Er war so heiser, daß Alice ihn 
kaum hören konnte. 

„Ich weiß nicht, was Sie meinen," sagte Alice. 

„Icii tu aber deutsch reden," fuhr der Frosch fort, 
„oder sind Sie vielleidit taub? Was hat die Tür ver- 
langt?" 

„Nichts," sagte Alice ungeduldig. „Idi habe an sie 
geklopft!" 

„Das soll man nicht tun," murmelte der Frosch; 
„das ärgert sie." Dann ging er hin und gab der Tür 

110 



mit einem seiner großen Füße einen Stoß. „Wenn 
man die Tür in Ruhe läßt," keudite er heraus und 
humpelte zu seinem Baum zurüde, „dann läßt sie 
einen auch in Ruhe." 

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen 
und eine sdirille Stimme sang von innen: 

Da sprach Alice zum Spiegelland: 
„Seht hier das Zepter in meiner Hand, 
dies ist meine Krone, dies ist mein Palast, 
seid alle heut abends bei mir zu Gast!" 

und hundert Stimmen fielen im Chor ein: 

„So füllt denn die Gläser, Ihr alle, juchhe! 
Und schleudert die Katzen in den Kaffee, 
und werfet die Mäuse ins Speiseservice. — 
Heil, dreißigmal dreimal der Königin Alice I" 

Dann folgte wirrer Lärm und Hochrufe. Alice 
dachte: „Dreißig mal dreimal macht neunzigmal. Idi 
mödite wissen, ob jemand zählt?" 

Im nächsten Augenblick war wieder alles still; 
dann sang dieselbe schrille Stimme: 

„Oh Spiegelglasvolk!" sprach Alice, „wie schön! 
Es ehrt mich, euch alle bei mir zu seh'n. 
Ihr speist heut bei mir; idi zeichne euch aus 
durch einen königlidien Schmaus!" 

Dann kam wieder der Chor: 

„Nun füllet die Gläser mit Tinte und Öl 

und madit einen fürditerlichen Bahöll, 

mischt Wein in den Streusand und Bier in den Grieß. — 

Heil, neunzigmal neunmal der Königin Alice!" 

111 



„Neunzigmal neunmall" wiederholte Alice ver- 
zweifelt. „Das wird nie aufhören! Ich gehe lieber gleidi 
hinein." 

Sie trat ein, und im Augenblidc ihres Eintretens 
war es totenstill. 

Alice schaute ängstlich die Tafel entlang, während 
sie durch die große Halle ging, und sah, daß ungefähr 
fünfzig Gäste aller Art versammelt waren. Einige waren 
Tiere, einige Vögel und sogar Blumen waren darunter. 

„Ich bin froh, daß sie gekommen sind, ohne auf 
die Einladung zu warten," dachte sie; „ich hätte nidit 
gewußt, wen idi eigentlidi einladen muß!" 

An der Stirnseite der Tafel standen drei Stühle; 
auf zweien hatten schon die schwarze und die weiße 
Königin Platz genommen, aber der mittlere war noch 
leer. Alice setzte sich hin; das Schweigen war ihr 
peinlidi und sie sehnte sich danach, jemanden sprechen 
zu hören. 

Endlich begann die schwarze Königin: „Du hast 
die Suppe und den Fisch versäumt," sagte sie. „Jetzt 
kommt der Braten!" Die Kellner stellten eine Hammel- 
keule vor Alice hin, die sie ziemlich furchtsam ansah, 
denn sie hatte nie vorher einen Braten zerteilt. 

„Du schaust schüchtern drein; erlaube, daß ich 
dich dieser Hammelkeule vorstelle," sagte die schwarze 
Königin. „Alice — Hammelkeule, Hammelkeule — 
Alice." Die Hammelkeule stand in der Schüssel auf 
und verbeugte sich vor Alice; Alice gab die Ver- 
beugung zurück und wußte nicht, ob sie sich fürchten 
oder freuen sollte. 

„Darf ich Ihnen ein Stüdc abschneiden?" sagte 
sie, nahm Messer und Gabel und schaute von einer 
Königin zur andern. 

„Durchaus nicht!" sagte die schwarze Königin 
sehr energisch. „Es schickt sich nicht, jemanden, dem 

112 



man vorgestellt worden ist, zu zerschneiden. Tragt 
den Braten fort!" Und die Kellner trugen ihn weg 
und brachten einen großen Pflaumenkuchen an seiner 
Stelle. 

„Ich möchte dem Kuchen nicht vorgestellt werden, 
bitte," sagte Alice schnell, „sonst bekommen wir 
überhaupt kein Abendessen; darf ich Ihnen ein Stüdc 
geben?" 

Aber die schwarze Königin machte ein mürrisches 
Gesicht und brummfe: „Kuchen — Alice, Alice — 
Kuchen. Tragt den Kuchen fort!" Und die Kellner 
nahmen ihn so schnell weg, daß Alice kaum seine 
Verbeugung erwidern konnte. 

Sie sah aber nicht ein, warum die schwarze Königin 
die Einzige sein sollte, die Befehle gab. So probierte 
sie, zu rufen: „Kellner, bringen Sie den Kuchen 
zurück!" Und sofort stand er wieder da, wie bei einem 
Zauberkunststüdi. Er war so groß, daß er sie ein 
wenig einschüchterte, gerade wie die Hammelkeule. 
Aber sie überwand ihre Schüchternheit tapfer, schnitt 
ein Stüdc herunter und reichte es der schwarzen 
Königin. 

„Welch eine Unverschämtheit!" sagte der Kuchen. 
„Ich möchte wissen, was du dazu sagen würdest, wenn 
ich ein Stück aus dir herausschneiden vwde, du 
Geschöpf!" 

Er sprach mit einer dicken, klebrigen Stimme und 
Alice konnte kein Wort erwidern. Sie konnte nur 
sitzen und schauen und nach Luft schnappen. „Sag 
doch irgend etwas," drängte die schwarze Königin. 
„Es ist doch lächerlich, dem Kuchen die Konversation 
ganz allein zu überlassen!" 

„Ich habe heute soviel Gedichte aufsagen hören," 
fing Alice an und erschrak, als sie bemerkte, daß, 

113 



sowie sie den Mund öffnete, aiigenblidilich Totenstille 
eintrat und alle die Augen auf sie richteten;, „und 
komischerweise hat beinahe jedes von Fischen ge- 
handelt. Wie kommt es, daß die Leute hier alle so 
gerne von Fischen reden?" 

Sie hatte zur schwarzen Königin gesprochen, deren 
Antwort allerdings etwas ausweichend klang. „Was 
Fische anlangt," sagte sie sehr leise und feierlich 
und hielt ihren Mund ganz nahe an Alicens Ohr, „so 
weiß Ihre weiße Majestät ein wunderschönes Rätsel 
— ganz in Versen — das nur von Fischen handelt. 
Soll sie es aufsagen?" 

„Ihre schwarze Majestät ist sehr freundlich, davon 
zu sprechen," murmelte die weiße Königin in Alicens 
anderes Ohr. Ihre Stimme klang wie das Gurren 
einer Taube. „Das wäre wunderschön. Soll ich?" 

„Bitte!" sagte Alice sehr höflich. 

Die weiße Königin lachte entzüdd auf und 
streichelte Alicens Hals; dann fing sie an: 

„Zuerst wird der Fisch gefangen; 

das ist leicht, ein Kind kann ihn erlangen. 

Dann wird er zu Markt getragen 

und verkauft an Wochentagen. 

Sodann wird der Fisch gebraten 
auf einem eisernen Spaten, 
serviert mit grünen Salaten 
oder mit Tomaten. 

Bringt ihn her! Laßt uns nicht vergessen, 
ihn auch heute abend zu essen! 
Setzt ihn auf den Tisch. 
Nehmt den Deckel vom Fisch! 

114 



Oh weh] Der Decke!, vne angeleimt, 
hält fest an der Schüssel (well sich's reimt). 
Was ist nun leichter im Guten und Bösen: 
Den Deckel oder dies Rätsel zu lösen?" 

„Laß dir eine Weile Zeit zum Nachdenken und 
dann ratel" sagte die schwarze Königin. „Einstweilen 
wollen wir auf dein Wohl trinken. — Das Wohl der 
Königin Alice!" schrie sie mit ihrer lauten Stimme, 
und alle Gäste fingen sogleich zu trinken an, und 
zwar auf sehr komische Art. Einige setzten ihre Gläser 
auf wie Kerzenauslöscher und tranken alles, was ihnen 
über das Gesicht herunterrann — die andern warfen 
die Gläser um und tranken den Wein vom Tisch- 
rand, über den er heruntertropfte. Drei, die aussahen 
wie Känguruhs, krochen in die Schüssel des Hammel- 
bratens und fingen an, eifrig den Saft aufzulecken. 
Genau wie Schweine in einem Trog, dachte Alice. 

„Du mußt in einer hübschen Rede danken," sagte 
die schwarze Königin und schaute Alice finster an. 

„Wir müssen dich unterstützen," flüsterte die weiße 
Königin, als Alice gehorsam aufstand, obwohl sie ein 
wenig Angst hatte. 

„Danke vielmals," flüsterte sie, „aber ich kann 
ganz gut allein stehen." 

„Das würde sich nicht schicken," sagte die schwarze 
Königin sehr bestimmt. So mußte Alice es sich ge- 
fallen lassen, daß sie sie stützten. 

(„Und sie haben mich so gequetscht," sagte sie 
nachher, als sie ihrer Schwester die Geschichte des 
Festmahls erzählte. „Ich fürchtete, sie würden mich 
ganz flach pressen.") 

Tatsächlich war es ziemlich schwer für sie, auf 
ihrem Platz stehen zu bleiben, während sie sprach. 
Die beiden Königinnen drückten sie von jeder Seite 

115 



so stark, daß sie sie beinahe in die Luft hoben. „Ich 
erhebe mich, um zu danken — " begann Alice und 
im Sprechen erhob sie sich wirklich um einige Zoll, 
aber sie hielt sich am Tischrand fest und es gelang 
ihr, sich wieder auf den Boden herunter zu drüdien. 

„Nimm dich in acht!" schrie die weiße Königin 
und faßte Alicens Haar mit beiden Händen. „Es wird 
etwas geschehen!" Und dann (so beschrieb Alice es 
nachher) geschahen alle möglichen Dinge zugleich. 
Die Kerzen wuchsen zur Zimmerdecke herauf, sie 
sahen aus wie ein Binsenbeet mit Raketen an der 
Spitze. Die Flaschen nahmen je zwei Teller und setzten 
sie eilig als Flügel an, benützten die Gabeln als 
Beine und flatterten in alle Richtungen davon; „und 
sie sehen Vögeln ungeheuer ähnlich," dachte Alice, 
so gut sie in dieser entsetzlichen Verwirrung über- 
haupt denken konnte. 

In diesem Augenblidc hörte sie neben sich ein 
heiseres Lachen und drehte sich um, zu sehen, 
was mit der weißen Königin los sei, aber statt der 
Königin saß die Hammelkeule im Sessel. „Hier bin 
ich!" schrie eine Stimme aus der Suppenterrine und 
Alice drehte sich wieder um, gerade rechtzeitig, um 
zu sehen, wie das gutmütige Gesicht der Königin 
sie einen Augenblidi über den Rand der Suppen- 
terrine angrinste, ehe es in der Suppe verschwand. 
Es war kein Augenblick zu verlieren; schon lagen ein 
paar von den Gästen in den Schüsseln und der 
Suppenschöpfer ging auf dem Tisch zu Alicens Stuhl 
und forderte sie ungeduldig auf, ihm Platz zu machen. 

„Das kann ich nicht länger dulden!" schrie sie, 
sprang auf und nahm das Tischtuch mit beiden Händen. 
Ein ordentlicher Rudc und alle Teller, Schüsseln, Gäste 
und Kerzen lagen krachend in einem Haufen auf dem 
Fußboden. 

116 



„Was Sic anbelangt," fuhr sie fort und wandte 
sich heftig an die schwarze Königin, die sie als die 
Ursache alles Unheils ansah — aber die Königin 
saß nicht mehr neben ihr — sie war plötzlich so 
klein geworden wie ein Püppchen und lief nun auf 
dem Tisch vergnügt im Kreis ihrem Schultertuch nach, 
das sie hinter sich herzog. 

In jedem anderen Augenblick wäre Alice darüber 
erstaunt gewesen, jetzt aber war sie viel zu aufgeregt, 
um über irgend etwas in Erstaunen zu geraten. „Was 
Sie anbelangt," fuhr sie fort und erwischte die kleine 
Person bei einem Sprung über eine Flasche, die 
gerade auf den Tisch gestiegen war. „Sie will ich 
so lange beuteln, bis Sie ein Kätzchen sind, jawohl, 
das will ich." 



117 



X. 


K 


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p 


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1. 


B 


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u 


t 




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1 


n. 



Sie beutelte sie vom Tisch herunter, während sie 
sprach, und beutelte sie nachher mit aller Kraft in 
der Luft hin und her. 

Die schwarze Königin leistete gar keinen Wider- 
stand, nur wurde ihr Gesicht sehr klein und ihre 
Augen wurden sehr groß und grün, und während 
Alice fortfuhr sie zu beuteln, wurde sie immer kleiner 
— und didcer — und weicher — und runder — 



118 



XL K a p i t e 1. 

Aufwadicn, 

— und sie war wirklich ein Kätzchen. 



119 



XII. K a p i t e I. 

Wer hat es geträumt? 



— „Eure schwarze Majestät sollten nicht so laut 
schnurren!" sagte Alice, rieb sich die Augen und 
sprach das Kätzchen respektvoll, aber doch mit einiger 
Strenge an. „Sie haben mich geweckt — oh, aus 
einem wunderbaren Traum I Du warst die ganze Zeit 
bei mir — wir sind durchs ganze Spiegelland ge- 
gangen. Erinnerst du dich, Miez?" 

Es ist eine unangenehme Gewohnheit der Katzen 
(wie Alice einmal bemerkt hat), daß sie schnurren, 
was immer man auch zu ihnen sagt. „Würden 
sie schnurren, um ,ja* zu sagen, und miauen, um 
»nein* zu sagen, oder eine ähnliche Regel ein- 
halten, dann könnte man doch mit ihnen reden. 
Aber was soll man mit einer Person sprechen, 
die immer dasselbe sagt?" Jetzt also schnurrte das 
Kätzchen, und es war unmöglich, zu erraten, ob es 
ja oder nein meinte. Nun suchte Alice unter den 
Schachfiguren auf dem Tisch, bis sie die schwarze 
Königin gefunden hatte, und dann kniete sie auf 
dem Teppich vor dem Kamin nieder und stellte das 
Kätzchen und die Königin einander gegenüber. „Schau 
einmal, Kätzchen!" rief sie und klatschte triumphierend 
in die Hände. „Gesteh jetzt, daß du dich in sie ver- 
wandelt hast!" („Aber sie hat sie gar nicht angeschaut," 
sagte sie, als sie die Sache nachher ihrer Schwester 
erklärte, „sie hat den Kopf umgedreht, als ob sie 
nicht sehen könnte; nur ein bißchen verlegen hat sie 
ausgesehen, also muß sie doch die schwarze Königin 
gewesen sein.") „Sitz ein bißchen gerader, meine 
Liebe!" rief Alice lächelnd, „und knixe während du 

120 



nachdenkst, was du schnurren sollst; das erspart 
Zeit!" Und sie fing das Kätzchen und küßte es, weil 
es eine schwarze Königin gewesen war. 

„Schneeweißchen, Liebling," fuhr sie fort und 
schaute über ihre Schulter zu dem weißen Kätzchen 
hin, das noch immer geduldig sich das Gesicht 
waschen ließ. „Wann wird Dinah endlich mit Eurer 
weißen Majestät fertig sein? Das ist wahrscheinlich 
der Grund, warum du in meinem Traum so unordent- 
lich ausgesehen hast. — Dinah! weißt du, daß du 
eine weiße Königin abreibst? Das ist wirklich sehr 
respektlos von dir." 

„Was ist Dinah nur gewesen?" plauderte sie weiter 
und setzte sich behaglich nieder, einen Ellenbogen 
auf dem Teppich, das Kinn in der Hand, und schaute 
die Kätzchen an. „Sag einmal, Dinah, bist du viel- 
leicht Plumpsti Bumsti gewesen? Ich glaube fast — 
aber sag noch niemand etwas davon, denn ich bin 
nicht sicher." 

„Miez, wenn du nur wirklich in meinem Traum 
mit mir gewesen wärst, etwas hätte dir sicher ge- 
fallen — man hat mir so viele Gedichte aufgesagt 
und alle handelten von Fischen. Morgen früh sollst du 
ein Festmahl haben. Die ganze Zeit während du früh- 
stückst, will ich dir ,Das Walroß und der Zimmermann' 
aufsagen und dann kannst du dir einbilden, daß du 
Austern schmauset, mein Schatz. Jetzt aber, Miezchen, 
wollen wir überlegen, wer denn geträumt hat. Das ist 
eine sehr ernste Frage. Und du sollst dir nicht so die 
Pfote ledcen, — als ob Dinah dich nicht gewaschen 
hätte! Siehst du, Miez, entweder habe ich geträumt 
oder der schwarze König. Er war natürlich ein Teil 
von meinem Traum; aber dann war ich auch ein Teil 
von seinem Traum! War es der schwarze König, 
Miez? Du warst seine Frau, mein Schatz, also müßtest 

121 



du es wissen. — O Miez, hilf mir es doch heraus- 
bringen! Deine Pfote hat ZeitI" Aber das weiße 
Kätzchen fing nur an, die andere Pfote zu lecken 
und tat, als hätte es die Frage nicht gehört. 
Was glaubst du wohl, wer es gewesen ist? 



Im Juii war's. Ich gliif in leiditem Boot, 
Vom Wald umrausdit, von Sonnenglut umloht. 
Träumend hinein ins Sommerabendrot. 

Drei frohe Kinder saßen mir zurseit, 

Mit Aug' und Ohr sehnsüditig und bereit. 

Und sdimeidielten: „Erzähl uns wieder heuti" — 

Der Julisonne Glanz ist längst dahin, 
Herbstfröste über kahle Ufer ziehn. 
Das Echo sdiläft, Erinnerungen fliehn. 

Doch meine Freundin immer wieder steigt 

Aus jenem Strom, der sanft sich abwärts neigt: 

Alice, die nie dem wachen Blidc sidi zeigt. 

Und immer noch sind Kinder mir zurseit 
Mit Aug' und Ohr sehnsüchtig und bereit, 
Sdimeichelnd „erzähl! erzähle!" allezeit. 

Sie alle wohnen selbst im Wunderland, 

Sie gehn durdi Träume, glüd^lidi und gespannt, 

Sie schauen und sie lauschen unverwandt. 

Stromabwärts gleitend in durchsonntem Raum 
Tauchen sie nieder in den goldnen Schaum — 
Was ist das Leben anders als ein Traum? 



Drude von OHo Maaß' Söhne Ges. m. b. H„ 
Wien, I. Wailfischgasse Nr. 10 — 683 23